Geschichten vom Jungbläser Leonard

1.HERR Knechter und der Anfänger Oder wie Alles begann Leonard saß alleine zu Hause. Mutti arbeitete am Tage im Büro und abends räumte sie in einem Kaufhaus Waren in die Regale. Heute war zwar Samstag, doch jetzt kurz vor Weihnachten musste sie mehr einräumen als sonst. Vati war auch nicht zu erreichen, denn er baute mit seiner Firma große Festzelte in ganz Europa auf und ab. Vor ein paar Jahren hatten seine Eltern hier im Dorf im Neubaugebiet ein schönes Haus gebaut. Er war damals noch klein, doch er konnte sich noch ganz genau erinnern, wie sehr sich alle gefreut hatten. Natürlich hatten seine Eltern Kredit dafür aufgenommen. Das war auch der Grund warum es später so oft Streit zwischen Ihnen gab. Zuerst musste Vati seine alte Arbeitsstelle aufgeben und in der Zelt- Firma anfangen um mehr Geld zu verdienen. Sie sahen sie sich kaum noch, jeder war unzufrieden mit dem anderen und es gab immer Streit wenn Vati nach Hause kam. Dann ließen sich seine Eltern scheiden. Mutti nahm den Job im Kaufhaus noch zusätzlich an, um die Schulden fürs Haus zu bezahlen. Auch für Leonard war das eine schwere Zeit. Zum Glück lebte damals Oma noch. Meistens war er bei ihr und wenn er etwas auf dem Herzen hatte war sie für ihn da. Leider war sie vor einem halben Jahr gestorben. Voriges Jahr haben sie noch zusammen Advents- und Weihnachtslieder gesungen. Jetzt war Leonard einsam. Er saß vor dem Computer und spielte irgendein Spiel, doch das war nicht wirklich interessant. Heute Abend muss ich noch einmal raus, sagte er sich, und zog sich an. Es war nicht das erste Mal, dass er Abends durch das Dorf ging, die schön geschmückten Weihnachtsbäume draußen betrachtete, in die erleuchteten Fenster sah und sich vorstellte wie drinnen glückliche Kinder mit ihren Eltern zusammen saßen. Er ging durch das Dorf, zuerst durch das Neubaugebiet, dann durch den alten Ort. Spinne ich, fragte er sich, das klingt doch wie ein Weihnachtslied, wer macht denn in dieser Kälte das Fenster auf und stellt das Radio so laut? Natürlich zog es ihn in Richtung Musik. Er lief schneller um zu sehen woher sie kam. Als Leonard um die Ecke bog sah er zu seinem Erstaunen, dass es gar kein Radio gab. Acht Leute standen mit Trompeten und anderen Blechinstrumenten in einem Halbkreis und spielten „Tochter Zion“. Leonard kannte dieses Lied, weil das das Lieblingslied seiner Oma war. Nachdem es zu Ende war sagte ein Mann eine Nummer an und die anderen blätterten in ihren Büchern. „Macht schnell“, rief ein Bläser, „sonst friere ich ein, meine Ventile haben vorhin schon geklemmt“. Nicht nur die Trompeten, auch die Finger litten unter der Kälte. Das war wohl der Grund, warum das blättern nicht so schnell ging. Der Mann fragte: „ Können wir“, alle wollten beginnen, da rief einer „mein Zug klemmt“. „Mein drittes Ventil ist auch fest“, sagte ein anderer. Da sagte der Chef: „Da hilft nur Schnaps“. Ein Bläser ging an seine Tasche, holte eine Flasche hervor und füllte ein wenig in sein Instrument. Die Flasche machte die Runde, jeder gab einen Schluck ins Instrument und nahm sich selbst auch noch einen. Jetzt waren die Instrumente wieder fit und es ging los. Drei Lieder schafften die Bläser und Leonard hörte zu. Die Lieder erinnerten ihn daran wie schön es war, als er sie immer mit Oma gesungen hatte. Nachdem die Instrumente schon wieder eingefroren waren, wollten die Bläser an eine andere Stelle in der Hoffnung, dass die Instrumente dort nicht so schnell ausstiegen. Leonard ging zu dem Posaunenchor und fragte ob er mit könne. „Natürlich, sehr gern“, sagte ein Trompeter, „wir sind froh, wenn überhaupt jemand bei der Kälte zuhört.“ So zogen sie gemeinsam zum nächsten Platz. Nachdem sie dort auch ein paar Lieder gespielt hatten nahmen sie noch einmal alle Kräfte zusammen. Sie hatten sich vorgenommen noch auf einem dritten Platz zu spielen. Leonard folgte auch hier hin. „Wir hätten dir auch gern noch `Rudolf das kleine Renntier´ gespielt, sagte einer der Bläser, aber heute sind dafür die Instrumente zu steif.“ „Das ist nicht so schlimm, die alten Lieder gefallen mir sowieso besser“, meinte Leonard. Ein anderer fragte: „Sag mal, du frierst wohl noch nicht?“ „ Es geht so, ich wollte aber gern bis zum letzten Lied bleiben“. „Wenn du willst kannst du mit reinkommen. Ich wohne hier und wir wollen uns jetzt aufwärmen“. Leonard überlegte, Mutti hatte ihm ja verboten einfach mit unbekannten Menschen mitzugehen. Da er aber einige schon öfter im Dorf gesehen hatte, ging er mit. Außerdem war ihm kalt. Der Bläser, Gerd hieß er, hatte sich im Keller einen Partyraum eingerichtet. Dieser Raum wurde heute eingeweiht. Im Ofen brannte das Feuer und heiße Getränke gab es genug. Die Erwachsenen tranken Glühwein und Leonard bekam Tee. „Deine Eltern werden sich schon fragen wo du bleibst“, fragte ein Mann, es war der Herr Knechter. „Ich habe nur Mutti“, sagte Leonard und die kommt erst spät nach Hause, sie muss heute noch extra lange bleiben um Regale im Supermarkt einzuräumen“. „Dann kannst du auch zum Abendbrot bleiben“, sagte Gerd. „Es gibt überbackenen Toast“ Leonard war das ganz recht, alleine schmeckte es ihm sowieso nie. Als die Bläser aufgetaut waren ging es ganz lustig zu. Jeder hatte etwas zu erzählen. Es war nur kurze Zeit still, als die Toasts erschienen. Leonard wurde öfter aufgefordert zuzulangen. Zuerst war er noch schüchtern. Da sagte Herr Knechter: „ Lang nur richtig zu, guck dir den Langen dort an. Der lebt nach der Devise: Wenns mir die Gastgeber gern geben , dann freuen sie sich wenn ich esse und wenn sie es mir nicht gern geben dann habe ich sie wenigstens richtig geschädigt“. Der lange Bläser war von diesem Spott unbeeindruckt geblieben, wahrscheinlich hat er so etwas schon öfter gehört. Alle forderten Leonard auf zu essen und er aß. Am Ende musste er den obersten Hosenknopf aufmachen, weil seine Hose so spannte. Ob es daran lag., dass Leonard dabei war, dass Bläser lustige Geschichten erzählten, die sie mit dem Posaunenchor erlebt hatten? Jedenfalls verging die Zeit unbemerkt. Etwa halb zehn sah Leonard zufällig auf die Uhr und bekam einen Schreck. Mutti kommt gleich heim und er ist nicht da. Leonard verabschiedete sich schnell und rannte los. Er kam an der Haustür an, gerade als seine Mutter die Tür aufschließen wollte. Au weia, das gab gehörigen Ärger. Leonard musste nach der Abreibung sofort ins Bett. Besonders sauer war Mutti, dass Leonard einfach zu Leuten ging, ohne sie zu kennen und ohne das sie Bescheid wusste. Am nächsten Morgen haben die zwei dann noch einmal miteinander geredet. Am Anfang hatte Leonard ganz schlechte Karten, doch als er dann erzählte dass er nur ins Dorf gegangen war, weil er so alleine war bekam Mutti ein schlechtes Gewissen. „Du“, meinte Leonard, „wenn ich Trompete lernen könnte, könnte ich doch wieder zu den Bläsern, weil die dann keine Fremden mehr für mich sind“. Auch wenn diese Argumentation sehr durchsichtig war musste Mutti über ihren Sohn lachen. „Im Ernst“, sagte sie dann, „willst du wirklich Trompete lernen? Wie war es denn als du mit Fußball begonnen hattest, drei Mal warst du dort. Beim Tischtennis hast du es auch nicht länger ausgehalten und die Pferde, die du geritten hast sind auch schon längst gestorben“, Das stimmt“, sagte Leonard, „aber das hier ist etwas anderes“. „War es nicht immer etwas anderes“, fragte Mutti. „Ich habe mich richtig wohl gefühlt“, meinte Leonard. „Ja, wenn man feiert fühlt man sich eigentlich immer wohl, aber ein Instrument lernen ist Arbeit.“ „Andere haben es auch geschafft“, entgegnete Leonard. „Das kann schon sein, aber mir passt es nicht, dass du in der Kirche ein Instrument lernst. Du weißt doch, dass ich mit der Kirche nichts am Hut habe.“ Leonard wollte aber unbedingt Trompete lernen. Mutti versprach ihm in der Musikschule nachzufragen, was so eine Ausbildung kostet. Als ihr die Summe genannt wurde, wusste sie, dass sie sich das nicht leisten konnte. Trotzdem hatte sie immer noch keine Lust ihn zum Posaunenchor zu lassen. Das nächste Problem das Leonard mit seiner Mutter hatte drehte sich um die Gestaltung des Weihnachtsfestes. Einig war man sich das Fest wie immer zu feiern, doch keiner konnte sagen wie man „immer“ gefeiert hat. Letztes Jahr war Leonard mit Oma zur Kirche gegangen, Mutti war zu Hause geblieben. Jetzt drehte sich alles um die Frage Kirche oder keine Kirche. Leonard versuchte alles um Mutti zu überreden mit in die Kirche zu gehen. Er versprach den Baum zu schmücken, den Tisch zu decken, aufzuräumen, sogar die Wäsche zu waschen, wenn es nur in die Kirche ging, sogar auf alle Geschenke wollte er verzichten. Da er wusste, dass die Bläser dort sein werden, erhoffte er sich Mutti doch noch vom Posaunenchor zu überzeugen. Schließlich lenkte Mutti ein. Gemeinsam ging es in die Kirche. Der Posaunenchor hatte sich auf der ersten Empore einen Platz eingerichtet. Hier standen genug Stühle für alle Bläser. Leonard ging mit seiner Mutter natürlich dort hin. Gerd rief schon als er ihn von weitem sah: „Leonard, ich habe extra einen Stuhl für dich besorgt. Du kannst dich neben mich setzen“. Auch für Mutti war noch ein Platz frei. Der Gottesdienst war sehr schön. Leonard hat alle Lieder so laut wie er konnte mitgesungen. Gegen die Trompeten hatte er aber trotzdem keine Chance. Am Ende als die Leute gingen stellte er seiner Mutter die Bläser vor. Als er Herrn Knechter vorstellte sagte er: „Mutti, das ist Herr Knechter, der würde mir das Trompete spielen beibringen, wenn du es erlaubst, der Posaunenchor hat sogar eine alte Trompete fürs erste und ein Schulbuch“. „Na gut, wenn die Schule nicht darunter leidet und du nicht nach drei Wochen wieder aufhörst“. „Versprochen“, sagte Leonard und umarmte seine Mutter. Zu Hause gab es zwar noch einige Überraschungen, aber das war sein schönstes Weihnachtsgeschenk. Wenn ich groß bin, dachte Leonard, dann werde ich ein berühmter Trompeter und Mutti wird noch froh sein, dass sie zugestimmt hat. 2. Herr Knechter und das Gebet Im neuen Jahr begann Leonard mit der Ausbildung bei Herrn Knechter. Zuerst begann er mit einer Intensivwoche. Er übte jeden Tag und lernte etwas Neues. Atmen, Lippenübungen, Töne auf dem Mundstück und endlich die ersten ordentlichen Töne auf dem Instrument. Zuerst sah er nicht ein was diese komischen Sachen sollten, doch Herr Knechter erklärte ihm geduldig wofür alles gut war. Am Ende war Leonard froh, dass die Woche rum war und das Blasen nun endlich richtig beginnen sollte. Woche für Woche erlebte er Erfolge, weil er wirklich ernsthaft und fast täglich übte. Mutti fragte manchmal ob er schon geübt hätte, hatte aber sonst keine Zeit sich um Leonards Blaskünste zu kümmern. Die Bläserei machte ihm immer mehr Spaß, es störte ihn nur, dass seine Mutter im Grunde dagegen war. Sie war weniger gegen das Blasen, es lag eher daran, dass der Posaunenchor zur Kirchgemeinde gehörte. Oma war da anders. Sie ging oft in die Kirche und betete auch regelmäßig selber, sogar wenn sie von niemand den Auftrag dazu bekam. Ob Mutti früher zur Kirche ging wusste Leonard nicht. Oma war traurig wenn sie davon erzählte dass Mutti damals in der DDR zur erweiterten Oberschule durfte. Dort hatte man den Schülern erzählt, dass alle, die zur Kirche gehen, dumm sind. Die Wissenschaft hätte schon lange bewiesen, dass es keinen Gott gibt. Sagte Oma manchmal zu Hause etwas vom Glauben, da meinte Mutti nur: „Ach du immer mit deinem Gott“. Für sie war das nur noch etwas für Rückständige, die nur noch nicht wussten was die Stunde geschlagen hatte. Manchmal überlegte er sich, wie er Mutti überzeugen könne, dass es in der Kirche doch nicht so schlimm zuging wie sie sich immer dachte. Eines Tages, beim Unterricht vertraute er seine Probleme Herrn Knechter an. „Können sie Beten“, wurde er von seinem Schüler gefragt. „Wieso“ „Immer wenn Oma von Muttis Verhältnis zum glauben sprach, dann sagte sie: Da hilft nur beten. Wenn Oma jetzt tot ist gibt es doch keinen mehr, der für meine Mutter betet“. „Und warum betest du nicht selber“, fragte Herr Knechter. „Ich weiß doch gar nicht ob ich das kann, wie betet man denn?“ „ Was hat denn deine Oma dir beigebracht?“ „Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Das passt aber überhaupt nicht für Mutti“ „Weißt Du“, sagte Herr Knechter, mit Gott kann man reden wie mit einem Freund, man kann ihm alles sagen.“ „ Wird dann alles sowie ich es erbeten habe?“ „ Wenn du einen Freund um etwas bittest, macht er dann immer alles was du willst?“ „Nö, manchmal sagt mein Freund auch zu mir: Du spinnst. Vielleicht hat er dann ab und zu recht.“ „ Siehst du, so kannst du dir das auch mit Gott vorstellen. Mit dem Gebet kann man manchmal sehr unterschiedliche Erfahrungen machen, man kann es auch nicht verhindern, dass man positiv überrascht wird.“ „Haben Sie denn schon gebetet und Gott hat gehört?“ „ Ich glaube Gott hört immer, nur manchmal hat er eine ganz andere Vorstellung von seiner Antwort als wir. Ein Beispiel von mir. Ein Kollege von mir hatte ein Augenleiden. Das wurde so schlimm, dass er operiert werden musste. Ich hatte ihn in der Klinik besucht und ihm gesagt, dass ich für ihn gebetet habe. Während der Operation gab es ein Problem und das Auge wurde blind. Ich habe ihn dann lange nicht gesehen, weil er nicht mehr bei uns arbeiten konnte. Eigentlich war ich froh darüber, dass wir uns nicht sprechen konnten, denn was sollte ich ihm sagen wenn er mich auf mein Gebet ansprach? Er machte eine Umschulung, ließ sein anderes Auge operieren und fand eine gute Arbeitsstelle. Auf Arbeit lernte er seine Frau kennen, hat heute ein Kind mit ihr und scheint recht zufrieden zu sein. Alles in allem hat er sich trotz diesem tragischen Ereignis verbessert. Ich bin schon der Meinung, dass das Gottes Antwort auf mein Gebet war, vor allem da er vor der Operation zu vereinsamen drohte. Trotzdem könnte ich ihm das nicht ins Gesicht sagen wenn ich ihn sehen sollte“ „Da kommt mir noch eine andere Idee“, sagte Leonard. „Sie sind doch so alt wie meine Mutti?“ „Kann sein“. „Sie sind doch nicht verheiratet, da könnten sie doch meine Mutti heiraten und sie dann von Gott überzeugen. Eigentlich ist sie ganz prima, nur die Kirche und Gott kann sie nicht so richtig leiden.“ „Weißt du“, sagte Herr Knechter, „das ist wohl nicht der richtige Weg. Wenn man sein Leben miteinander teilt, dann sollte man sich vorher einig sein ob man auch einen gemeinsamen Glauben hat“. „Schade“, meinte Leonard, damit war dieses Gespräch beendet. Im Aushang der Kirchgemeinde sah er eines Tages die Ankündigung einer Veranstaltung zum Weltgebetstag. Mutti sagte: „Geh nut hin, du wirst schon sehen was du davon hast“ Leonard ging hin. Herr Knechter war auch dort. Er schien sich zu freuen, dass er nicht der einzige Mann war. „Wieso sind hier nur Frauen, Gebet ist wohl nichts für Männer?“ „Bin ich kein Mann“, fragte Herr Knechter. „Ja, schon, aber der einzige“. „Das ist so: Die Veranstaltung heißt Weltgebetstag der Frauen, da fühlen sich die Männer in unserer Gemeinde nicht angesprochen, obwohl das nur heißen soll, dass Frauen aus aller Welt diesen Tag vorbereitet haben.“ Es war ein prima Nachmittag. Ein Vortrag über das Land das dieses Jahr Gastgeber war. Lichtbilder, ein Gottesdienst und vor allem noch Speisen wie man sie dort kochte. Leonard hat’s geschmeckt und die Frauen aus der Gemeinde wollten den Kleinen wahrscheinlich mästen. Mit prallgefülltem Bauch kam er nach Hause. „Na, wie war der Gebetstag“, fragte Mutti. „Sehr nahrhaft“. Auch wenn ihm der Weltgebetstag gut gefallen hatte, sein Problem hatte Leonard immer noch. Mir wird nichts anderes übrig bleiben als selbst zu beten, dachte er sich, aber wie fange ich an. Oma hatte immer gesagt Lieber Vater. Diese Anrede erinnerte ihn an Vati. Einen Gott, der in Europa rumreiste um Zelte aufzubauen und niemals Zeit hatte konnte Leonard nicht gebrauchen. Nach langem grübeln entschloss er sich dann Lieber Gott zu sagen. Für einen ungeübten war das mit dem Beten doch richtige Arbeit. Endlich war sein Gebet fertig. Es lautete: Lieber Gott, ich übe, wie du bestimmt weißt, regelmäßig Trompete. Ich will auch mit im den Posaunenchor. Eigentlich tue ich irgendwie auch was für dich. Nur Mutti kann die Kirche nicht leiden, darum passt ihr es auch nicht, dass ich Mitblasen will. Mach doch, dass sie froh ist das ich den Posaunenchor habe. Dein Leonard. Als er sich erinnerte, dass Oma immer Amen am Schluss sagte, sagte er das auch. Die Bedeutung von diesem Wort war ihm zwar unbekannt, doch wahrscheinlich wird ein Gebet erst durch ein Amen gültig. Am nächsten Tag war er sich sicher, dass sein Gebet noch nicht bei Gott angekommen ist. Mutti hatte nämlich einen Brief aus der Schule bekommen. Darin stand dass Leonard in diesem Jahr eine fünf in Mathematik bekommen soll. Wenn er sich nicht bis zum Schuljahresende verbessert ist er versetzungsgefährdet. Das war ein Zirkus zu Hause. Mutti hat sich mächtig aufgeregt. Leonards Argument dass alle bei diesem blöden Mathematiklehrer schlechter geworden sind ließ sie überhaupt nicht gelten. „Entweder du verbesserst dich in Mathematik oder du darfst nicht mehr trompete spielen“, das war ihr letztes Wort. Zur nächsten Übungsstunde erzählte er alles Herrn Knechter. Der hörte erst einmal zu. „Bist du sicher, dass es an deinem Lehrer liegt oder war es vielleicht doch nur Faulheit?“ „Letztes Jahr hatte ich noch eine Zwei, als in diesem Jahr der neue Lehrer kam habe ich kaum etwas verstanden. Immer wenn ich zu Hause üben wollte war alles weg. Sogar unser Klassenbester steht in Mathematik inzwischen auf drei.“ „Mal sehen was sich da machen lässt“, sagte Herr Knechter, „ich rede mal mit dem Langen. Der studiert Physik, da wird das bisschen Mathematik schon zu machen sein“. Der Lange Physikstudent, der mit der Tuba, willigte ein. Er gab ab sofort Leonard Nachhilfeunterricht. Der Lange führte ein strenges Regiment. „Wenn du nur kurz vor den Arbeiten kommst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, dann brauchst du erst gar nicht bei mir anzutreten. Wenn du kommst, dann regelmäßig. Leonard akzeptierte die Bedingung. Zuerst, wie beim Trompetenunterricht, eine Intensivwoche, dann jede Woche zwei mal eine Stunde. Nachdem die ersten Hürden überwunden waren ging es langsam aufwärts. Zuerst bekam er eine vier, dann eine Drei und bei der nächsten Arbeit eine Zwei. Als Mutti sah, dass die Zensuren besser wurden sagte sie nichts mehr gegen den Trompetenunterricht. Sie war stolz auf ihr pädagogisches Geschick denn Leonard hatte nichts von den Übungsstunden erzählt. Die Mathematiknachhilfe war wirklich prima. Der Lange hatte wirklich Geschick beim erklären der Aufgaben. Nur manchmal konnte er es sich nicht verkneifen zu sagen: „ „Wir rechnen so etwas viel einfacher als ihr in der Schule“. Das schönste war aber das Zimmer seines Posaunenchorhelfers. Da wo bei anderen Poster von Popgruppen hingen gab es hier Sternenkarten. Ob es bei allen Physikstudenten so aussah wusste Leonard nicht, aber der hier studierte Astronomie. Bald schon kannte sich Leonard sich im Andromedanebel besser aus als auf der Deutschlandkarte. Manchmal freute er sich direkt auf die Nachhilfe, weil er das Gefühl hatte seinen großen Bruder zu besuchen. Gegen Ende des Schuljahres gab es einen riesigen Krach in der Schule. Die Eltern hatten sich in der Elternversammlung über den Mathematiklehrer beschwert. Das die Leistungen der gesamten Klasse rapide zurückgegangen waren konnte nicht nur an den Schülen liegen. In der Elternversammlung ging es hoch her. Der Mathematiklehrer wusste sich kaum noch zu helfen. Am Schluss sagte er, dass es doch auch einen Schüler gab, der im letzten viertel Jahr viel besser geworden war, nämlich Leonard. Leonards Mutter wurde gefragt wieso. „Als ich ihm das letzte Mal so richtig den Kopf gewaschen hatte wurde es besser mit seinen Zensuren“, sagte Mutti. Der Direktor bat sie mit ihrem Sohn doch am nächsten Tag in sein Büro zu kommen. Dort fragte er Leonard wieso er sich so stark verbessert hatte während seine Klassenkameraden immer schlechter wurden. Leonard erzählte alles ganz genau. Angefangen mit der Übungsstunde bei Herrn Knechter bis zum Nachhilfeunterricht beim Langen. „Na, da können sie aber froh sein, dass ihr Sohn den Posaunenchor hat“, sagte der Direktor. „Bin ich auch“, sagte Mutti, „er scheint dort doch ganz gut aufgehoben zu sein“ Leonard traute kaum seinen Ohren, ob sein Gebet inzwischen bei Gott angekommen war? Wenn ich groß bin werde ich das mit dem Gebet ganz genau erforschen, dachte er sich. Warum fange ich eigentlich nicht jetzt schon an? 3.Herr Knechter und das Wasser „Nächste Woche kommst du mit zur Übungsstunde“. Chorleiter Knechter sagte das zu Jungbläser Leonard, doch er sah dabei nicht ganz glücklich aus. „Sie sehen so aus, als ob sie einen Frosch verschluckt hätten, bin ich so schlecht?“ „Nein, nein, mit dir hat das nichts zu tun. Oder sagen wir, du hast keine Schuld. Das Problem ist nur, dass ich dir ein Geheimnis anvertrauen muss.“ Leonard war ganz Ohr, Geheimnisse waren schon immer sein Ding.“ Nur frei von der Leber weg“, sagte er und man sah wie seine Augen funkelten. „Du weißt doch, dass sich unsere Instrumente nach längerem Gebrauch mit Kondenswasser und Spucke füllen.“ „Ja und...“ „Wenn wir in der Kirche üben ist das kein Problem. Die Holzdielen sind sehr saugfähig und spätestens nächste Woche ist alles weggetrocknet.“ „Und wo ist das Geheimnis?“ „Wenn wir im Winter im Gemeinderaum üben ist das nicht so einfach. Das Linoleum saugt nicht besonders. Es ist uns auch noch nicht gelungen das Zeug als Bodenpflegemittel zu verkaufen.“ „Das ist doch kein Problem“, sagte Leonard „warum gehen denn nicht alle vor die Tür um Wasser zu lassen? Ich mache das doch jetzt zur Übungsstunde auch so.“ „Wir haben auch schon alle möglichen Dinge ausprobiert. Zuerst hatten wir Blechdosen, die sahen aber bald grün und braun aus und keiner wollte sie wegschaffen. Danach kam die Idee mit den Scheuerlappen. Doch auch nach wenigen Proben war keiner bereit, die Dinger mit spitzen Fingern zu entsorgen. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich dann vorgeschlagen, dass wir Wasserpausen machen. Die Idee war großartig, doch der Teufel steckte im Detail. Einer hat öfter Wasser im Instrument als der andere, außerdem gluckert es nie bei allen gleichzeitig. Es dauerte nicht lange, da waren die Wasserpausen ausgedehnte Schwatzpausen. Im nächsten Winter gibt es keine Wasserpausen, dachte ich, doch das Problem blieb ungelöst. Ich weiß nicht welcher Bläser es war, doch als wir wieder von der Kirche in den Gemeinderaum wechselten, nahm einer eine Blume aus dem Fenster und hat sie immer gegossen, wenn sein Instrument voll war. Diese Idee fand allgemeine Zustimmung. Jede Stimme holte sich eine Blume und die Tuba bekam eine extra. So haben wir unser Problem seit einigen Jahren gelöst.“ „Und was sagt Frau Pfarrer dazu?“ fragte Leonard. „Die weiß nichts davon und erfährt es auch hoffentlich nie. Es gab schon einige kritische Momente.“ Eines Tages, kurz nach Weihnachten hatten wir Bibelstunde. Es gibt da manchmal Augenblicke wo man vom Thema abschweift. In so einem Augenblick erzählte Frau Pfarrer, dass die Christsterne in diesem Jahr besonders große Qualitätsunterschiede hatten. Einer gedieh prächtig, ein anderer war eingegangen. Nach reiflicher Überlegung glaube ich heute, dass wir einen Christstern vernachlässigt hatten, das war sein Ende. Später einmal kam der Pfarrer zu uns und bat uns um Entschuldigung, seine Frau hätte keine Zeit gehabt um den Gemeinderaum zu säubern. Er wüsste aber, dass wir uns den Raum immer so schön dekorieren und die Blumen im Halbkreis vor die Bläser stellen, ihm tut es leid, dass der Raum nicht ganz in Ordnung ist. Unser Pfarrer denkt nichts Böses von seinen Mitchristen.“ „Sie wollen also sagen, dass wir Frau Pfarrers Blumenstöcken unser Wasser opfern, sie zu Opferstöcken machen?“ - Leonard lächelte verschmitzt - „Ich halte dicht“. Leonards erste Probe kam. Zunächst ging alles glatt. Der Christstern stand bei der ersten Stimme, das Alpenveilchen war das Patenkind der Zweiten. Der Tenor kümmerte sich um seine heißgeliebte Grünpflanze, der Baß kämpfte mit der Agave und die Tuba goss den Bonsai. Doch dann wurde alles anders. Der Bassposaunist beugte sich zur Agave und stach sich in den Finger. Er sprang auf und stürzte, mit der Posaune in der Hand, in die Ecke wo die Trockenblumen standen. Im Tenor hatte man die Situation zuerst erkannt. „Bruder Ihren Glauben möchte ich haben.“ Ein Bläser aus der ersten Stimme rief: „Wenn die Dinger grün werden, heißt das noch lange nicht, dass sie treiben“ Leonard dachte sich nur: „Wenn ich groß bin werde ich Erfinder, es muss doch noch eine bessere Lösung geben!!!“ 4. Herr Knechter und das Ständchen „Leonard“, sagte Herr Knechter, „am Sonntag kommst du mit zum Ständchen“. Leonard war gerade zum Einzelunterricht bei seinem Chorleiter. „Wollen Sie mich wirklich mitnehmen, denken Sie denn nicht mehr an das letzte Mal?“ fragte er. „Du kannst zwar noch nicht alle Lieder, aber das macht doch nichts. Die Lieder, die du nicht kannst, spielst du eben nicht mit. Als Jungbläser ist es keine Schande, wenn man nicht alles mitspielt.“ „Mein Vati würde sagen, wenn du nichts machst, dann mach wenigstens einen guten Eindruck.“ „Genau! Um eins treffen wir uns an der Kirche. Um zwei sind wir dann im Behindertenheim in unserer Kreisstadt. Dort ist wieder Sommerfest. Die Posaunenchöre unserer Umgebung wechseln sich jedes Jahr ab. In diesem Jahr sind wir dran. Zuerst spielen wir zum Gottesdienst, danach gibt es ein großes Ständchen. Hinterher gibt's Kaffee und Kuchen. Gemeindeglieder, die sich dem Heim verbunden fühlen, spendieren zu diesem Zweck immer Kuchen. Weil sich keiner der Spender lumpen lässt, gibt es stets ein vorzügliches Kuchenbuffet.“ „Ich weiß nicht“, druckste Leonard herum, “soll ich da wirklich mit?“ „Was ist denn los? Du hast doch sonst auch immer richtig zugefasst wenn es Kuchen gab?“ „Ich meine nur ..., eigentlich ..., na ja ich war noch nie in einem Behindertenheim.“ „Da wird es ja Zeit, dass du mitkommst“, bemerkte Herr Knechter trocken. „Ich meine“ fing Leonard wieder an, „ich war noch nie mit Behinderten zusammen.“ „Das ist doch gerade ein Grund mitzufahren. Wie willst du deine Beklemmungen gegenüber Menschen mit einer Behinderung loswerden, wenn du nicht auf sie zugehst?“ „Ich weiß nicht, wie soll ich mich denn da verhalten? „So wie immer“, sagte Herr Knechter, „nur keine Angst. Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung können genau so gut oder schlecht sein wie andere, sie verhalten sich nur manchmal etwas ungewöhnlich. Ob du es glaubst oder nicht, auf einige der Heimbewohner freue ich mich schon richtig. Am Sonntag werden wir auch meinen Freund treffen. Er arbeitet in diesem Heim. Von ihm weiß ich, dass viele Bewohner Musik sehr lieben. Ich kann dir voraussagen, wir werden ein dankbares Publikum haben. Bestimmt stellen sich wieder drei Männer neben mich und dirigieren den Posaunenchor mit großen Armbewegungen. Herr Knechter schmunzelte, soll ich dir mal von Klaus erzählen? Manchmal ist Klaus ohne seinen Betreuer aufgeschmissen, trotzdem ist er sehr unternehmungslustig. Sein Taschengeld und das was er in der Werkstatt verdient, spart er immer eisern auf um gemeinsam mit zwei Betreuern und anderen Freunden aus seiner Gruppe in Urlaub zu fahren. Ich weiß noch, einmal waren sie auf Teneriffa. - Klaus hat noch eine andere Eigenart. Immer wenn ein Posaunenchor kommt, stellt er sich zum Chorleiter, sieht ihn von der Seite an: 'Heißt denn du? Kommst 'n du her? Kann du auch Rosamunde spielen?’ ,Rosamunde’ eine böhmische Polka, die vom verunglückten Liebeswerben um ein gleichnamiges Mädchen berichtet, hat schon manchen Posaunenchor in Verlegenheit gebracht. So weit ich weiß, kursiert kein Satz für dieses Lied unter den Posaunenchören. Vor zwei Jahren haben drei Bläser so schlecht und recht improvisiert: Klaus war regelrecht aus dem Häuschen. Der Posaunenchor, der letztes Jahr spielte, hatte keine Bläser, die so etwas konnten. Sie ließen sie sich etwas anderes einfallen. Ein Trompeter blies die Melodie und ein zweiter sang dazu. Er kannte aber nicht den Originaltext. Statt dessen sang er die Parodie, Rosamunde, schenk mir dein Sparkassenbuch, Rosamunde zehntausend Mark sind genug'. Klaus hatte sehr schnell begriffen, dass der Sänger sich einen Jux erlaubte. Ihm gefiel das so, dass er beim Kaffee mehrmals zu dem Bläser ging und ihn kumpelhaft, und mit viel Kraft auf den Arm schlug. ,Barkassenbuch' rief er jubelnd dabei aus. Dem Sänger verging das Jubeln, ihm tat die ganze Woche der Arm weh. Leonard musste hellauf lachen, aber er begriff, dass sein Lehrer diesen Klaus wirklich ins Herz geschlossen hatte. Dieses Mal sind wir nun dran. Ich überlege schon seit geraumer Zeit, wie wir das Rosamunde-Problem lösen könnten. Zum Glück haben wir ja einen jungen Posaunenwart. Den habe ich angesprochen und um einen Satz gebeten. Wie junge Leute eben so sind, er hat sich voll in die Arbeit gekniet. Statt eines leichten Liedsatzes hat er so etwas wie eine Rosamunde-Symphonie geschrieben. Rosamunde als Polka, als Walzer, als Marsch, sogar als Tango musste die Rosamunde herhalten. Die Krönung für unsere Bläser ist, dass er zum Schluss die Polka noch einmal, aber einen Ton höher in G-Dur erklingen lässt. Zurzeit spielst du ja nur in der ersten halben Stunde der Proben mit uns gemeinsam. Darum weißt du auch nicht, dass wir schon ein Vierteljahr an der Rosamunde üben. Am Sonntag soll sie nun erklingen. Ich freue mich schon drauf. Klaus wird Augen machen.“ Am Sonntag war es nun so weit. Zuerst spielten die Bläser zum Gottesdienst im Grünen. Der Altar und das Lesepult waren auf einer kleinen Bühne. Nach dem Gottesdienst postierten sich die Bläser vor der Bühne und wollten ihr Standchen bringen. Herr Knechter stellte sich vor. Da hatte er schon zwei Assistenten. Einer der beiden hatte sich sogar mit einem Kochlöffel, als Dirigentenstab, bewaffnet. Nun kam auch noch Klaus dazu. ,Heißt denn du? Kommst 'n du her?“ „Ich bin der Herr Knechter, und wie heißt du?“„Klaus“ „Hasst du denn ein Lieblingslied, das wir dir spielen können?“ „Ja, ich hör gern, Cherry Cherry Lady'. Kann du dat spielen?“ Herrn Knechter blieb die Spucke weg. Nachdem er ein paarmal tief Luft geholt hatte, hatte er sich gefangen. „Klaus, wir haben Rosamunde eingeübt. Das ist doch auch ein schönes Lied. Können wir das für dich spielen, würde dir das nicht auch gefallen?“ „Geht so“ meinte Klaus. „Situation gerettet“, sagte sich Herr Knechter und hob seine Arme zum Einsatz. Seine Assistenten hoben auch ihre Arme. Sie sahen ihn aus den Augenwinkeln an als warteten sie auf den Startschuss zu einem Wettlauf. Es ging los. Die Co-Dirigenten dirigierten mit ganzer Kraft. Mit riesigen Armbewegungen begleiteten sie die Rosamunde. Sie ruderten und ruderten, und durch den Kochlöffel waren einige Notenständer in Gefahr. Doch nicht nur die Gestik, auch die Mimik zeugte davon, dass die Männer mit ganzem Einsatz bei der Sache waren. Einer aus der zweiten Stimme blickte nach vorn. Das hätte er nicht tun sollen. Er sah einen besonders inbrünstigen Augenaufschlag von Klaus. Da prustete er los. Natürlich ist Lachen ansteckend. Die Devise hieß ab jetzt nicht mehr, gut musizieren', sondern, ernst bleiben'. Immer wieder sah man, wie sich ein Bläser hinter seinem Instrument leicht schüttelte. Es ging aber gut, bis auf den Nachschlag. Posaunenchorbläser haben diesen Rhythmus oft nicht im Blut. Auch hier mussten die Bläser in der zweiten Stimme immer noch verzweifelt zählen, um die Töne passend auf zwei und vier zu bringen. In dieser Situation war aber an Zählen nicht mehr zu denken. Herr Knechter befürchtete, dass die zweite Stimme die Überleitung verpatzen würde. Er rief darum am Ende der Polka: „Aus!“ Die Bläser waren tatsächlich still, nur die Hilfsdirigenten ruderten noch. Herr Knechter rief: „Walzer!“ und gab den Einsatz. Der Posaunenchor setzte richtig ein, nur die fleißigen Helfer waren sich des Taktwechsels nicht bewusst. Sie übten immer noch so etwas wie Zweiertakt, während der echte Dirigent sich schon am Dreiertakt versuchte. In diesem Armgewirr war es den Bläsern fast unmöglich zu erkennen, wer hier eigentlich den Takt angab. Nun fiel der Tenor, der hier auf zwei, drei kommen sollte, aus. Zum Glück spielte der Bass kräftig seine eins, so dass am Ende alle wieder beisammen waren. Doch auch hier hielt es der Chorleiter für besser, auf die Überleitung zu verzichten. Stattdessen rief er „Marsch“. Es schien so, als wäre das das Signal für zwei andere Bewohner des Heimes. Auf dem freien Platz hinter Herrn Knechter hielten sie Exerzierübungen ab. Einer hatte es sogar geschafft, sich mit einem Besen zu bewaffnen, der gerade herumstand. Im Stechschritt ging es auf und ab bis der Marsch zu Ende war. Hier gab es erst mal eine längere Pause für die Bläser. Auch die fleißigen Helfer ruhten erschöpft von ihren Leibesübungen. Als es schien, dass sich alle Bläser einigermaßen erholt hatten, sagte Herr Knechter: „Tango mit Überleitung in den Schlussteil“. Die Drei stellten sich auf und warteten auf den Startschuss des Chorleiters. Die Bläser konnten nicht mehr nach vorn sehen, denn der Tango war der schwerste Teil ihrer Rosamunde-Symphonie. Nach dem ersten Schlag blickten alle konzentriert in die Noten, teils wegen des schweren Satzes, teils um nicht laut loszulachen. Nur Leonard, der ja nicht mitspielte, konnte sehen, was sich nun auf dem „Parkett“ abspielte. Die zwei Marschierer legten den Besen zur Seite und nahmen Aufstellung. Wie ein argentinisches Tangopaar standen sie Arm in Arm. Nach der einen Seite hatten sie die Arme ausgestreckt. Beide bewegten sich nun mit Riesenschritten in Richtung der ausgestreckten Arme über den freien Platz. Nach einer schwungvollen Drehung ging es genau so wieder zurück. Einer in der zweiten Stimme sah am Schluss des Tangos nach vorne. Dabei verlor er den Faden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Noten zu suchen und um Fassung zu ringen. Er fand seinen Einsatz erst wieder, als die anderen schon die Schlusspolka in G-Dur spielten. Bei allem Suchen hatte er aber den Tonartwechsel übersehen. So kam es, dass der Nachschlag statt in G-Dur in g-Moll erklang. Das Ständchen verlief dann ganz normal weiter. Leonard hatte seine Stücke gut geübt und brachte alles fehlerfrei zu Ende. Nur die, Großen’ waren heute sehr unkonzentriert und machten mehr Fehler als sonst, woran das wohl lag? Beim anschließenden Kaffeetrinken gab es für die Bläser nur ein Thema: die verunglückte Rosamunde. Leonard fiel auf, dass man sich aber nicht über die Behinderten lustig machte, es waren wohl eher die komischen Situationen, die sie heraufbeschworen. In der Schule kam es oft vor, dass jemand ausgelacht wurde. Keiner lachte hier die Menschen aus, auch nicht wenn sie sich komisch verhielten. „Weißt du, Leonard“, sagte Herr Knechter, „sind die Normalen wirklich so normal? Die Menschen hier können sich meist nicht verstellen. Ich komme gern hier her, weil viele der Heimbewohner so ehrlich sind. Kommst du mal wieder mit?“ „Warum nicht?“, antwortete Leonardund dachte bei sich, „Wenn ich groß bin, werde ich Komponist. Für die Rosamunde muss es doch noch einen einfacheren Satz geben, außerdem hatte sich Klaus ja noch, Cherry, Cherry Lady' gewünscht“. 5.Herr Knechter und der Weihnachtsbaum Heute war in der Probe was los! Kurz vor dem Heiligen Abend liegt sowieso immer Spannung in der Luft. Keiner kann mehr Weihnachtslieder sehen, doch Herr Knechter übt und übt mit den Bläsern, damit ja nichts schief geht. Schließlich ist das fast der einzige Gottesdienst im Jahr, bei dem es mehr Zuhörer als Bläser gibt. Heute aber war es besonders schlimm. Der Chorleiter war nervös und die Bläser tuschelten und kicherten. „Was ist denn heute los?“, rief er ärgerlich. „Könnt ihr euch denn nicht zusammennehmen? Ich weiß ja, dass ihr euch eine ganze lange Woche nicht gesehen habt. Eure Witze könnt ihr trotzdem hinterher erzählen.“ „Aber das mit dem Weihnachtsbaum, das ist doch kein Witz.“, sagte Jungbläser Leonard. „Welcher Weihnachtsbaum?“ „Sie sind der einzige, der die Geschichte noch nicht kennt. Wenn sie wollen, dann erzähle ich sie schnell.“ „Schnell, schnell“, höhnte es aus der ersten Stimme, denn man kannte Leonards langatmige Erzählweise schon. „Also gut“, meinte der Chef. „Wer etwas zu sagen hat, der rede, und dann schweigt für immer!“ Das war die Aufforderung für Leonard. Er lehnte sich zurück, faltete die Hände über dem Bauch und holte tief Luft. „Also ...“ „Fasse dich kurz!“ schon wieder die erste Stimme. „Also“, sagte Leonard „wie ihr wisst, hat unsere Gemeinde kein Geld. Aber jetzt, wo wir das neue Gemeindehaus gebaut haben, brauchen wir doch unbedingt einen schönen großen Weihnachtsbaum. Wir wissen ja alle, dass unser Bürgermeister ein flinkes Bürschen ist. Er ging zu Hubert, dem Gemeindearbeiter, und beauftragte ihn, eine Fichte vom Dorfplatz zu schlagen. Nächstes Jahr soll hier sowieso gebaut werden, wer weiß schon, ob alle Fichten überleben, außerdem stehen ja noch zwei dort. Hubert gehorchte der Stimme seines Herrn und zog los. Am Dorfplatz angekommen warf er seine Motorsäge an und sägte den schönsten Baum ab. Kaum lag der Baum auf der Erde, da kam Kunze Fritz aus seiner Torfahrt. “Ihr Verbrecher“, schrie er, „den Baum hat unsere Oma noch vor 15 Jahren gepflanzt, ihr Lumpen kriegt den Baum nicht.“ Ehe Hubert recht zur Besinnung kam, schnappte Fritz den Baum und zog ihn in seinen Hof. Hubert war das auch recht. Er ging zum Bürgermeister und berichtete alles haarklein. Da unser Bürgermeister ja immer gewählt wird, obwohl ihn keiner mag, freute sich rasch das ganze Dorf über diese Schlappe. Da der Dorfhäuptling das wusste, überlegte er, was zu tunsei. Am nächsten Morgen lag ein Brief bei Kunzes im Briefkasten. Sehr geehrter Herr Kunze, da Sie am gestrigen Tage den Tannenbaum unrechtmäßig an sich genommen haben, fordere ich Sie hiermit auf, den Baum zurückzugeben. Nach Rücksprache mit unserem Anwalt muss ich ihnen leider mitteilen, dass die Tanne Gemeindeeigentum ist, weil sie auf Gemeindeland steht. Es spielt keine Rolle, dass Ihre werte Frau Mutter ihn gepflanzt hat. Sollten sie den Baum nicht binnen zwei Tagen der Gemeinde abgeben, sehen wir uns gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten. .gez. der Bürgermeister „Bah, rechtliche Schritte“, sagte Fritz, „der Baum bleibt hier bis die schwarz werden.“ Liesbeth, Fritz’ Frau sah das anders. Die `rechtlichen Schritte´ hatten sie schon beeindruckt. Da sie Angst hatte, dass er über Weihnachten im Gefängnis wäre, lag sie ihrem Mann so lange in den Ohren bis er klein bei gab, das heißt, nicht so ganz. Fritz’ bester Kumpel ist Kirchenältester. Den fragte er: „Bei der Gemeinde abgeben, kann das nicht auch bedeuten bei der Kirchgemeinde?“ Da die beiden das sowieso nicht entscheiden konnten, gingen sie zum Pfarrer. Der meinte nur: „Wir haben den Leichnam nicht gewollt, doch wir werden ihn gebührend aufbahren“ Da das Aufsehen inzwischen beträchtlich war, brachte man ihn vor acht Tagen nachts heimlich zur Kirche. Man weiß ja, wie das bei uns so ist, alles schweigt sich herum. Auch der Bürgermeister wusste am nächsten Morgen schon, wo der Baum nun war. Er schrieb dann auch einen Brief an den Pfarrer: Sehr geehrter Herr Pfarrer, unsere Gemeinde freut sich, der Kirchgemeinde in diesem Jahr einen Weihnachtsbaum spendieren zu können. Da er schon angekommen ist, bleibt mir nur noch zu sagen: FROHE WEIHNACHTEN und weiterhin gute Zusammenarbeit. gez. der Bürgermeister Das war alles, schloss Leonard. Jetzt sind wir gespannt, bei wem sich der Pfarrer bedankt, bei Fritz oder dem Bürgermeister“. „Mit dem Enkel von Fritz gehe ich in die Schule, genauso wie mit dem Sohn vom Pfarrer, die haben beide die Briefe gemaust und mir gezeigt. Ich habe sie selbst gesehen.“ Nach so erschöpfender Auskunft konnten die Bläser ihre Weihnachtslieder üben und brauchten nicht mehr zu tuscheln. Am heiligen Abend war die Kirche mindestens so voll wie immer. Den Bläsern erschien es aber so, als ob viele nur wegen des Baumes gekommen waren. Es war aber auch ein schönes Exemplar. “So ä Prachtschticke gab’s bei uns noch nie“, hörte man Schmidts Erna sagen und die musste es wissen, denn sie war die Älteste im Ort. Am Ende des Gottesdiensts kam üblicherweise die Stelle an der sich der Pfarrer immer für die Mitarbeit, die Sponsorenleistungen usw. bedankte. Plötzlich war alle Unruhe vorbei, man hätte eine Nadel fallen hören. „In diesem Jahr haben wir einen besonders prächtigen Weihnachtsbaum. Ich möchte mich bei allen Spendern herzlich bedanken“, sagte der Pfarrer. „Nä reden könn se ja die Pfarrer, das lern die bestimmt in ihrer Schule“, sagte Erna. Leonard dachte sich nur: wenn ich groß bin möchte ich auch so klug sein wie Herr Pfarrer, vielleicht kann ich dann auch manchmal Frieden schaffen, wenn andere sich in die Haare geraten. 6. Herr Knechter und das Bläserwochenende „Leonard, kommst du mit zum Bläserwochenende?“ fragte Herr Knechter. „Der Posaunenchor unserer Partnergemeinde hat uns eingeladen. Wir kennen uns schon viele Jahre. Vor der Wende waren die Bläser fast jedes Jahr bei uns, und nach der Wende waren wir öfter in Baden Württemberg. Mittlerweile haben wir es so eingerichtet, dass wir alle zwei Jahre, auf halber Strecke zwischen Thüringen und Württemberg ein Freizeitheim buchen, um uns dort zu treffen, miteinander zu blasen und etwas zu unternehmen. Das wird bestimmt eine großartige Sache“. „Ich werde meine Mutter fragen, ob sie etwas dagegen hat, aber ich glaube sie ist froh, wenn sie mal ihre Ruhe hat“, antwortete Leonard begeistert. Seine Mutter hatte nichts dagegen und so fuhr er mit. Am Abfahrtstag trafen sich alle. Sie fuhren mit vier Autos. Gerd aus der zweiten Stimme hatte ein Schild gemalt „Posaunenchor on tour“ Einer der Bläser sagte dazu, es müsse heißen: „Posaunenchor macht tut“. Gerd erzählte, dass er sich einen Ausdruck der Wegbeschreibung aus dem Internet geholt hatte. Er sagte; „Das Ding ist so gut wie ein Bordcomputer. Gerd und Leonard fuhren mit Herrn Knechter. Gerd saß vorn, weil er ja die Wegbeschreibung hatte. Leonard hätte auch gern vorn gesessen. Nachdem sie die Autobahn verlassen hatten, es dämmerte gerade, ging es in die Pampa. Gerd bestimmte, wo es lang ging. Rechts, links, geradeaus und so weiter. Nachdem sie zum dritten Mal über eine Kreuzung gefahren waren, jedes Mal aus einer anderen Richtung meinte Herr Knechter: „ Gerd, könntest du vielleicht doch mal den Atlas nehmen?“. Es dauerte noch eine ganze Weile ehe sie am Heim ankamen. Sie hatten einen Umweg von etwa fünfzig Kilometern gemacht. Die anderen waren schon alle da. Die fragten die Ankömmlinge nur scheinheilig: „Euer Bordcomputer hat wohl nicht richtig funktioniert“? Die kleinen Spitzen waren aber gleich wieder vergessen, denn sofort umringten die Bläser der Partnergemeinde das Auto. Das gab eine Wiedersehensfreude! Für Leonard war natürlich alles neu. Es dauerte gar nicht lange, da war dieses Gefühl verschwunden. Besonders gefiel es ihm, dass der Posaunenchor der Partnergemeinde auch einen Jungbläser hatte. Der Jungbläser war eigentlich eine Jungbläserin und hieß Dorothea. Sie zeigte ihm das ganze Haus. Über das Billardzimmer staunte er vor allem. Die beiden verabredeten sich sofort zum Billard nach dem Abendbrot. Beim Billardspielen erzählte Dorothea, dass ihr Name „Gabe Gottes“ bedeutet. Leonard dachte sich, dass der Name gar nicht so schlecht zu ihr passte. Beim Spiel wollte er Ihr seinen Lieblingswitz erzählen. Er fragte: „Wie heißt der dümmste Bahnhofsvorsteher in Thüringen?“ Dorothea wusste es natürlich nicht. „Na, der aus Sömmerda, denn immer wenn der Zug ankommt, ruft er: sömmer da“? Als keine Reaktion von ihr kam, sagte er noch mal: „ SÖMMER DA“. Doch Dorothea verstand diesen Witz nicht. Sie erklärte das so: „Das ischt, weil ihr so komisch redet.“ Leonard mochte Dorothea gut leiden, so verzichtete er darauf dieses Thema auszudiskutieren. Am nächsten Morgen zum Frühstück bat Dorothea um das Gsels. Als er ihr darauf das Salz gab sagte sie: „Die MARMELADE.“ Leonard meinte nur: „Und wir reden komisch!“ An diesem Tag standen hauptsächlich Proben und ein Ausflug nach Nördlingen auf dem Programm. Beide Programmpunkte absolvierten Dorothea und Leonard zusammen. In Nördlingen machten die beiden die Stadtführung auf der Stadtmauer mit. Hinterher hatten sie noch eine Stunde Zeit, um die Gegend zu erkunden. Sie kamen an ein kleines Rinnsal. Leonard sprang drüber, Dorothea streckte ihre Hand aus und sagte: „Hebscht mi?“ Leonard meinte: „Wenn ich dich jetzt anhebe, fallen wir beide ins Wasser“. „Du sollst mir deine Hand geben“. Jetzt verstand Leonard und versuchte schwäbisch zu sagen: „Ihr schwätzt arsch unverständlich“. Dorothea sah ihn an, dachte einen Augenblick nach und meinte dann: „Das heißt arg, Arsch ist etwas anderes“. Beide mussten auf einmal laut lachen. Auf dem Rückweg zum Heim verfuhren Herr Knechter und Gerd sich dann wieder verfahren. Zur Ehrenrettung von Herrn Knechter muss man aber sagen, dass sich alle, bis auf ein Auto, auf den kleinen Nebenstraßen verfranst hatten. Am Abend gab es dann rege Diskussionen. Man wollte am nächsten Morgen in ein nahe gelegenes Nonnenkloster fahren, um zur Messe zu spielen. Als Zugabe stand das Lied „Jesus, dein Licht“ zur Auswahl. Manche meinten, solche christlichen Popsongs könnte man doch nicht im Kloster spielen. Herr Knechter sagte: „Nonnen sind auch nur Menschen, warum sollten gerade die auf moderne Musik verzichten wollen?“ Man einigte sich dann, dass man das Lied spielt, auch auf die Gefahr hin im hohen Bogen aus dem Kloster geworfen zu werden. Die Messe in der wunderschönen Klosterkirche war richtig feierlich. Die Nonnen bedankten sich viele Male, dass die Bläser solchen Glanz in den Klosteralltag gebracht hätten. Herr Knechter versprach noch eine Zugabe und las sicherheitshalber den Text des Liedes vor. Dorothea und Leonard spielten nicht mit, da das noch zu schwer für sie war. Sie hatten so Zeit die Nonnen zu beobachten. Als „Jesus, dein Licht“ erklang, huschte ein Leuchten über die Gesichter als ob jemand den Schwestern das Licht angeknipst hätte. Nach der Messe ging es noch einmal zum Heim, wo man ein Abschiedsständchen für die Heimeltern bringen wollte. Die beiden Jungbläser standen natürlich wieder zusammen. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass sie so unkonzentriert waren. Sie hatten beim Aufstellen des Notenständers nicht darauf geachtet, dass alle Schrauben richtig festgezogen waren. Mitten im ersten Lied war es dann so weit. Der Notenständer sackte zusammen und war nur noch für Zwerge zu gebrauchen. Als die beiden wieder alles in Ordnung gebracht hatten, war das Lied zu Ende. Man schlug das nächste Lied auf und setzte an zu spielen. Nach drei Takten gab es eine kleine Windböe. Die Seiten verblätterten, und unsere Jungbläser waren wieder weg. Der Chorleiter der Partnergemeinde, Dorotheas Vater, sagte beim nächsten Lied an: „Choralbuch 334, Ich singe dir mit Herz und Mund“. Die beiden Jungbläser, die die Vorkommnisse immer noch auswerten mussten, hatten Nummer 224“Du hast zu deinem Abendmahl“, aufgeschlagen. Der Chorleiter hob die Arme und musste nach dem ersten Takt wieder abwinken. Er warf seiner Tochter einen bösen Blick zu. Leonard fühlte sich genau so schuldig und bemühte sich eilig die richtige Seite aufzuschlagen. Das vierte Lied sollte von einem Blatt gespielt werden. Da die Bläser am Nachbarpult ihr Blatt vergessen hatten wurde den Jungbläsern noch ein Posaunist zugeteilt. Dieser Bläser hatte seine Brille vergessen. Um nun trotzdem alles richtig zu spielen ging er immer näher zum Pult. So geschah es nicht nur, dass Dorothea und Leonard von Ihrem Ständer verdrängt wurden, nein, der Posaunist erwischte mit seinem Zug auch noch den Notenständer. Der wackelte gefährlich hin und her, fiel aber nicht um. Für die beiden reichte es aber, dass sie den Faden verloren. Die nächsten Lieder waren zum Glück nur von den älteren Bläsern zu spielen. Nach dem Ständchen nahm Herr Knechter Leonard beiseite: „Na, das war ja heute keine Glanzleistung“. Auch Dorotheas Vater schien so etwas Ähnliches zu ihr gesagt zu haben. Mit einem gemeinsamen Mittagessen ging die Bläserfreizeit zu Ende. Der Abschied war nahe und allen tat es leid, dass sie sich wieder trennen mussten. Besonders die beiden Jungbläser wären gern noch eine Weile zusammen geblieben. Als sie ins Auto gestiegen waren, fragte noch jemand, ob Gerd seinen Bordcomputer repariert hätte. Der Angesprochene zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren. Leonard aber saß ganz still und dachte während der ganzen Heimfahrt über das Erlebte nach. Zu guter Letzt sagte er sich: „Wenn die Sprache nicht wäre, würde ich gerne ein Schwabe werden, wenn ich groß bin.“ 7. Herr Knechter und der Westbesuch Nach dem gemeinsamen Bläserwochenende änderte sich einiges in Leonards Leben. Es fing damit an, dass Gerd ihn fragte ob er ihm am nächsten Wochenende mal beim Bauen helfen könne. Gerd lebte bei seinen Eltern auf einem Bauernhof und baute sich dort gerade eine Wohnung aus. Eigentlich konnte Leonard Gerd nicht besonders leiden, doch er sagte trotzdem zu. Die Bauarbeiten machten Leonard viel Spaß, besonders, weil Gerd ihn nicht als kleinen Jungen behandelte. Am Abend gab es dann „zur Feier des Tages“ Bratwurst und Brätel. (Später stellte Leonard fest, dass es bei Gerd immer nach einem Arbeitseinsatz „zur Feier des Tages“ Bratwurst und Brätel gab.) Gerd wollte jedoch seine Arbeit noch fertig machen und gab Leonard eine Heißluftpistole um die Holzkohle, anzuzünden. Anfänglich schien die Holzkohle kein Feuer zu fangen, und Leonard steckte die Spitze des Gerätes hinein. Gerd rief noch einmal nach seinem Bauhelfer, der vergaß aber im Eifer des Gefechtes, die Pistole auszumachen. Nach einer Weile lag ein Duft von verschmorter Plaste in der Luft. Als Leonard das roch, bekam er einen Schreck und rannte zum Bratwurstrost. Das Feuer loderte hell, und der Hals der Heißluftpistole war verschmort! Leonard wurde blass. Er ging mit hängendem Kopf zu Gerd um zu beichten. „Na, Heißluftpistole verschmort?“ fragte Gerd „Ja“, sagte Leonard. -„Geht sie noch?“ -„Ja“ „Keep cool, Alter“, lautete Gerds Lieblingsspruch, „nur wer nichts macht, macht auch nichts falsch“ Damit war die Angelegenheit zu Ende. Der Gerd scheint doch nicht so verkehrt zu sein, dachte Leonard, und bot seine Hilfe für weitere Baueinsätze an. Von nun an half er mindestens einmal pro Woche. Die beiden verstanden sich immer besser und ab und zu gab’s auch etwas Taschengeld. Leonard lernte viel als Bauhelfer. Als er das erste Mal den Abfluss in der Küche zu Hause erfolgreich reparierte, war auch seine Mutter davon überzeugt. Die zweite Person, die für Leonard wichtig wurde, war Gerds Oma. Sie war zwar über 80 Jahre aber, noch sehr rüstig. Von Anfang an hatte sie Leonard ins Herz geschlossen. Als sie merkte, dass Leonard ein Süßmaul war, stand immer ein Schälchen Pudding oder eins mit grüner Götterspeise, Leonards Leibgericht, in der Speisekammer. Immer, wenn er kam, stand die Oma in der Tür und sagte: „Komm erst mal rein, gearbeitet ist dann schnell. Ich hab auch was Gutes für dich.“ Dieser Aufforderung konnte er nicht widerstehen. Gerds Oma war ein prima Gesprächspartner. Mit der Zeit wurden die beiden ein Herz und eine Seele. Eines Tages, Gerd war auch dabei, fragte sie: „Wann kommst du eigentlich aus der Schule?“ -„Jetzt bin ich in der siebten Klasse, da habe ich noch drei Jahre Zeit, vielleicht mache ich auch noch Abitur.“ „Oma meint, wann du konfirmiert wirst“, sagte Gerd „Ich weiß nicht, ob ich konfirmiert werde, meine Mutter will, dass ich Jugendweihe mache.“ „Du gehst jede Woche in den Posaunenchor und willst Jugendweihe machen?“ Gerds Oma sah richtig wütend aus. „Man muss doch wissen wo man hingehört!“ Am Ende des Tages nahm Gerd Leonard beiseite. „Siehst schlecht aus, Alter. Ist es wegen Oma?“ Leonard nickte, „Keep cool, der Spruch, Man muss wissen wo man hingehört, den kenn ich zur genüge. Als die Kommunisten die Zwangskollektivierung angeordnet hatten, haben sich meine Großeltern so gut dagegen gewehrt wie es ging. Als sie trotzdem in die LPG eintreten mussten haben sie sich zu Kirche gehalten und viele Nachteile eingesteckt. Immer hat sie sich an diesen Spruch gehalten. Wenn du Jugendweihe machst bekommst du bestimmt kein Geschenk von ihr, denn konsequent ist sie. Zur Konfi würde sie sich nicht lumpen lassen, so gern wie sie dich hat.“ „Mir geht´s nicht um die Geschenke, aber kann ich denn jetzt noch zu euch kommen?“ Gerd lachte „rate mal was Oma gerade in die Speisekammer gestellt hat, grüne Götterspeise.“ Auch eine andere Gewohnheit gab es seit dem Bläserwochenende. Jeden Sonntag um 19.00 Uhr wartete Leonard auf einen Anruf. Er freute sich schon die ganze Woche darauf, mit Dorothea sprechen zu können. Dorotheas Eltern hatten einen Anschluss, bei dem sonntags keine Gebühren fällig werden. Das war auch gut so, denn die Gespräche dauerten mindestens eine halbe Stunde, meist sogar noch länger. Leonards Mutter hat ihm vorgeschlagen seine kleine Freundin ( „Is nicht meine Freundin“, hatte er gesagt) einzuladen. Nach einigem Hin und Her haben sie sich auf das Pfingstfest geeinigt. Dorotheas großer Bruder wollte nach Sachsen zu einem christlichen Treffen fahren, da bot es sich an sie mitzunehmen. In der Woche vor Pfingsten war viel zu tun bei Leonard zu Hause. Mutti putzte, wusch und backte, und Leonard musste mit helfen. So einen Aufriss macht Mutti doch sonst nicht, dachte Leonard. Wenn ich einen Klassenkameraden mit nach Hause bringen will, sagt sie nur ich soll vorher mein Zimmer aufräumen. Jetzt, wo das „Mädchen aus dem Westen“ kommt, stellt sie das ganze Haus auf den Kopf. Ob alle Frauen so sind? Endlich war es so weit, an Freitagabend kam Dorothea an. Leonard war ganz aus dem Häuschen. Leonards Mutter und Dorothea verstanden sich auf Anhieb. Das versprach ein schönes Wochenende zu werden. Alle saßen gemeinsam am Abendbrottisch, Leonard wollte gerade mit essen loslegen, da bemerkte er, dass Dorothea auf etwas wartete. „Was ist denn?“, fragte er. „Mir bäde erscht vorm esse“, sagte Dorothea. „Ich wasch mir bloß die Hände“, meinte Leonard, „was habt ihr denn da für eine riesige Wasserrechnung?“ „Wir baden nicht, wir beten“ erwiderte Dorothea in besonders betontem Hochdeutsch. „Na, wenn du das von zu Hause gewöhnt bist, dann kannst du ja auch bei uns beten“, sagte Leonards Mutter. Leonard fiel bald das Essen aus dem Gesicht. Das hatte er von seiner Mutter nicht erwartet, wo sie sonst doch nichts mit der Kirche am Hut hatte. Nach dem Abendbrot machten die beiden einen Spaziergang durchs Dorf. Sie gingen weiter zu Pastor Frömmle. Pastor Frömmle war früher der Pfarrer der Partnergemeinde gewesen. Als nach der Wende in Leonards Heimatort eine Pfarrstelle frei wurde zogen er und seine Frau nach Thüringen. Dorotheas Vater, der Posaunenchorleiter der Partnergemeinde, ließ durch seine Tochter einen Gruß übermitteln. Bei der Gelegenheit sagte Pastor Frömmle: „Leonard, wenn du konfirmiert werden willst, müsstest du dich aber spätestens nächste Woche anmelden, um noch an allen Konfirmandenstunden teilzunehmen“. Auf dem Weg zu Gerd erzählte er Dorothea von seinen Problemen mit der Konfirmation .Er erzählte ihr auch von Gerds Oma, ihrer Reaktion und davon, wie gern er selbst konfirmiert werden würde. Seine Mutter will aber nicht, dass er konfirmiert wird. Das würde sie nie zulassen. Als die zwei, ins Gespräch vertieft an einer Bank vorbei kamen schlug Dorothea vor sich darauf zu setzen und für die ganze Sache zu beten. Leonard kam sich komisch vor. Hier auf der Bank in aller Öffentlichkeit zu beten wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Weil es aber Dorothea war, die den Vorschlag gemacht hatte, ließ er sich darauf ein. Sie setzten sich und sagten Gott leise welche Probleme Leonard bedrückten. Nach dem Amen fragte er: „Sag mal, bei Euch in Schwaben, beten da alle so öffentlich auf der Straße, wenn sie ein Problem haben?“ „Nein“, sagte Dorothea. „Und hier traust du dich“? „Na klar, hier kennt mich doch keiner“. - „Beten deine Eltern auch?“ „Klar“, antwortete Dorothea, „mein Vater betet sogar jeden Tag für alle Bläser aus dem Posaunenchor und für unseren Posaunenwart“ „Woher weißt du denn das?“ „Das habe ich durch Zufall mal mitgekriegt. Manchmal kommt es sogar vor, dass der eine oder andere Bläser kommt, wenn er ein Problem hat, und dann beten sie zusammen dafür.“ Leonard erzählte daraufhin von seinen Erfahrungen mit dem Gebet, aber auch von einem Lehrer, der im Unterricht einmal abfällig gesagt hatte Beten sei Kinderkram. Auf dem Weg zu Gerd sagte Leonard: „Morgen gibt es Thüringer Bratwurst. Ich habe sie extra aus dem Fleischerladen neben der Schule geholt, denn der Fleischer macht die besten. „ Wusstest du übrigens, dass unsere Bratwürste schon vierhundert Jahre alt sind?“ „Was vierhundert Jahre?“, fragte Dorothea, „Und solche alten Dinger gibt es morgen?“ Leonard fasste Dorothea im Spaß an die Stirn. Den Dorfrundgang beendeten sie bei Gerd. „Kommt nur erst mal rein und esst eine Bratwurst mit. Ich wusste ja, dass Dorothea mitkommt da habe ich heute ganz besonders gute Bratwürste besorgt“, sagte Gerd. „ Ich war extra in Weimar. Dort gibt es einen Fleischer, der macht die besten“. Gerds Oma wollte natürlich auch das „Mächen aus dem Westen“ sehen. Die zwei blieben schließlich länger als sie sich vorgenommen hatten, so wohl fühlten sie sich. Am Samstag unternahmen Dorothea, Leonard und seine Mutter einen Ausflug. Dorothea war begeistert von Leonards Heimat. Am Abend waren sie gemeinsam in den Nachbarort eingeladen. Dort spielte der Posaunenchor immer zum Kirmesgottesdienst. Auch Leonards Mutter kam mit. Hinterher wurden die Bläser stets von einem Kirchenältesten in seinen Garten ans Lagerfeuer eingeladen. Mit den Worten: „Kommt nur, die Bratwürste liegen schon auf dem Rost! Mein Mann war extra in Erfurt. Dort kennt er einen Fleischer, der macht die besten“, wurden sie von der Hausfrau eingeladen. Es war sehr gemütlich am Feuer. Einige Bläser hatten ihre Frauen mitgebracht und gingen später noch tanzen .Die anderen saßen noch bis spät in die Nacht, sahen in die Flammen und unterhielten sich. Am nächsten Vormittag war der Posaunenchor schon wieder in Aktion. Seit Pastor Frömmle in der Gemeinde lebte wurde der Pfingstgottesdienst als Gottesdienst im Grünen gefeiert. Alle Gemeindeglieder der Dörfer, die Pastor Frömmle betreute, wurden dazu eingeladen. Auf einer Waldlichtung fand dieser Gottesdienst statt, der auch gern besucht wurde. Nach dem Gottesdienst gab es Bratwürste. Dieses Mal war der Kirchenchor an der Reihe mit dem braten. Der Chorleiter lud alle Gäste mit den Worten ein: „Gleich gibt es Rostbratwürste. Greifen Sie ruhig zu. Ich war gestern extra noch in Jena bei meinem Fleischer und habe dort welche geholt, denn der macht die besten Bratwürste“. Dorothea konnte das Wort Bratwürste nicht mehr hören. Auch wenn es bei jedem Gastgeber die bester ihrer Art gab, hätte sie gern mal etwas anderes aus der Thüringer Küche probiert. Auch Leonards Hunger auf Bratwürste war gestillt. Zum Glück wollten sie nach dem Gottesdienst Essen gehen. Leonard empfahl Dorothea natürlich eine seiner Leibspeisen, Thüringer Klöße. Am Abend waren Dorothea, Leonards Mutter und Leonard zu Herrn Knechter eingeladen. Als sie ankamen, brannte der Bratwurstrost. Dorothea sah das und blickte sie Leonard mit großen Augen an: „Bratwürste?“ „Nur von den besten“, sagte Leonard schelmisch blinzelnd. „Hallo!“ Herr Knechter kam freudestrahlend auf seine Gäste zu. „Eigentlich sollte es heute Bratwürste geben, ich bin extra nach Eisenach gefahren. Dort arbeitet mein Schulfreund, der macht die besten Bratwürste, die ich kenne. Aber Vorgestern und heut morgen gab es auch schon Bratwürste, da habe ich sie lieber eingefroren, und wir grillen Fisch.“ Dorothea atmete erleichtert auf. Es war sehr gemütlich bei Herrn Knechter. Er lebt auf einem Bauernhof und hat einen großen Garten. Weil er die Gartenfläche nicht für sich braucht, hat er Rasen angesät und sich zwei biologische Rasenmäher angeschafft. Etwa dreißig Meter von der Terrasse entfernt standen sie in ihrem Pferch. Herr Knechter hatte eine kleine Umzäunung mit Stangen gebaut. Während Herr Knechter und Leonards Mutter nach dem Abendessen sitzen blieben, gingen Dorothea und Leonard zu den Schafen. Sie kletterten auf den Zaun und setzten sich auf die oberste Stange. „ Weißt du, meine Mutter und mein Vater sind doch geschieden“ - „Ja“, fragte Dorothea. „Na ja mit denen wird’s doch sowieso nie wieder etwas, und Mutti ist doch alleine“ - „Ja, und?“ - „Na ja, der Herr Knechter hat doch auch keine Frau, könnten wir da nicht mal zusammen beten?“ - „Wofür beten?“ Dorothea war dieses Mal etwas schwer von Begriff. Doch dann verstand sie, was Leonard meinte. „Also“, sagte sie, „Gott ist kein Automat in den man ein Gebet hineinwirft und dann kommt eine Erhörung heraus“. Plötzlich bekam sie ein Blitzen in die Augen, sie lächelte: „Aber probieren können wir es trotzdem“. Am nächsten Morgen war die Stimmung am Frühstückstisch nicht besonders. Bald würde Dorotheas Bruder kommen und sie wieder abholen. Leonard hätte sie am liebsten nicht wieder fortgelassen. „Schade, dass du fort musst“, sagte er, „da können wir doch wieder nur telefonieren“. „Ich wäre auch noch gern hier geblieben, aber nur, wenn es keine Bratwürste mehr gibt“, meinte sie. Dann hatte Dorothea einen Einfall. „Wie wäre es denn, wenn du zu meiner Konfirmation kommst?“ und zu Leonards Mutter gewandt sagte sie, „Sie sind natürlich auch eingeladen.“ „Wenn deine Eltern nichts dagegen haben, kommen wir gerne, und du kommst dann mit deinen Eltern zu Leonards Konfirmation.“ Bei den Worten seiner Mutter verschluckte sich Leonard, und Dorothea musste ihn kräftig auf den Rücken schlagen. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er schnell, so als wollte er verhindern, dass sich seine Mutter die Sache anders überlegt: „Ich gehe gleich morgen zu Herrn Frömmle und melde mich an“. Der Besuch hatte so also ein bittersüßes Ende. Eigentlich war Leonard froh, dass das Problem mit der Konfirmation so eine Lösung gefunden hatte. Doch der Abschied von Dorothea fiel ihm sehr schwer. Als sie ins Auto stieg und abfuhr, musste er sich sogar eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Abends im Bett dachte er noch einmal über das Wochenende nach. Die Sache mit dem Gebet musste er weiter verfolgen, auch wenn Gott kein Automat ist. „Wenn ich groß bin, dann will ich trotzdem beten, auch wenn manche Erwachsene das für Kinderkram halten, sagte sich Leonard. 8. Herr Knechter und das Ständchen Zur ersten Probe nach den Sommerferien fragte Herr Knechter, wer mit zum Ständchen kommen könne. Da ein Gemeindeglied 70 Jahre alt würde, wäre es schön, wenn der Posaunenchor blasen könnte. Auf die Frage hin, wer das Gemeindeglied denn se,i stellte sich heraus, dass das der ehemalige Arzt des Dorfes ist. Leonard hatte keine Lust. Nach der Probe fragte Herr Knechter ihn, warum er nicht mitkommen wolle. „Ach, ich kann da nicht so richtig“ druckste Leonard herum. Herr Knechter merkte sofort, dass Leonard keine Lust hatte. „Was hast du denn so Wichtiges vor, das du nicht kommen kannst?“ „Ach, ich weiß nicht, beim Doktor blasen, muss ich denn da mit?“ „Weißt du Leonard, wir Christen gehören zusammen, nicht nur im Gottesdienst, auch beim Feiern. Vor zwei Jahren hatte unser Posaunist Eberhard Silberne Hochzeit. Er ist derjenige, der den weitesten Weg zu uns hat. Trotzdem ist er zu fast jeder Probe und jedem Ständchen da. Er hatte uns alle eingeladen. Wir sollten keine Instrumente mitbringen, da er eine Band engagiert hatte. Plötzlich musste ein Bläser zu einem anderen Fest, der andere hatte zu tun, ein dritter kam nicht, weil wir keine Instrumente mitbringen sollten. Am Ende war ich ganz allein. Eberhards Dorf ist zwar ganz klein, doch sie haben ein Kulturhaus. Er hatte den Saal gemietet. Es war ein riesiges Fest. Das halbe Dorf war da und seine ganze Verwandtschaft. Nur vom Posaunenchor, mit dem er jede Woche zusammen musiziert, war ich allein zu Gast. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt! Mir fiel das Gleichnis vom Hausherren ein, der zum großen Fest einlädt, und keiner kommt. Zum Glück war auch sein Pfarrer zugegen. Der erzählte mir, dass sich Eberhard und seine Frau am nächsten Tag noch einmal einsegnen lassen. Ich habe dann das Fest sehr bald verlassen und den Bläsern telefonisch klar gemacht, dass sie zur Einsegnung kommen und blasen sollen. Wir haben die beiden richtig überrascht und wurden zum großen Resteessen eingeladen. Die Reste haben wir nicht geschafft, aber es war ein schöner Nachmittag. Damals habe ich begriffen, dass wir zusammengehören. Nicht nur in Not einander beistehen, wie es Christenpflicht ist, nein auch zusammen feiern ist wichtig.“ „Na ja“, meinte Leonard, „das kann ja richtig sein, aber irgendwie ist der Doktor ein komischer Mensch“. „Was heißt schon komisch? Manchmal ist er vielleicht etwas eigenartig, doch er ist nicht bösartig. Wir haben schon über manche Eigenart gelacht, doch er ist ein guter Mensch, der vielen geholfen hat“. „Aber mir geht er mit seiner Flöte auf die Nerven. Immer wenn er denkt muss er sich in den Vordergrund schieben und ein Lied herausquietschen“. Herr Knechter wurde ernst. „Weißt du, Leonard, ich bin auch kein Freund der Flöte, aber ich weiß dass er damit nur Freude machen will. Solche Menschen wie den Doktor nennt man Originale. Leider gibt es viel zu wenige davon. Als unser Posaunenchor gegründet wurde, gab es einige, ohne die wir wahrscheinlich nicht mehr existieren würden. Da war zum Beispiel die Grete. Grete war schon alt. Sie saß tagein tagaus auf der Bank vor ihrem Haus. Weil sie auch im Winter bei klirrender Kälte dort saß, nannten wir sie Feinfrostgrete. Zu ihr setzten sich fast alle Frauen des Dorfes .Selbst wenn sich die größten Feindinnen bei ihr einfanden, saßen sie, eine zur rechten und eine zur linken, und es gab keinen Streit. Auch Hilde gehörte zu den Originalen in unserem Dorf. Sie half, wenn Kinder zur Welt kamen und wusch die Toten. In fast jedem Haus war sie, wenn es etwas zu helfen gab. Ihr Fehler war aber, dass sie kein Geheimnis für sich behalten konnte. Es gab noch mehr solcher Menschen in unserer Gemeinde. Jeder hatte sein Gutes und jeder hatte Fehler. Uns junge Bläser haben sie immer gern gesehen, auch wenn unser Können noch recht dürftig war. Ohne ihre Liebe hätten wir bestimmt aufgegeben. Sie wollten uns hören, auch wenn andere noch über uns lächelten. Das war die Verpflichtung, die uns antrieb.“ „Muss es denn wirklich sein?“, fragte Leonard. „Ja“, sagte Herr Knechter und damit war das Thema abgehakt. Am Abend des fraglichen Tages kamen die Bläser zusammen und spielten Choräle und Volkslieder. Als sie fertig waren, wurden sie zum Essen eingeladen. Der Doktor hatte ein Zelt aufgestellt und als Beleuchtung die Weihnachtsbaumkerzen mit den Spitzen nach unten aufgehängt. Alle fanden das recht originell, für Leonard aber war das nur eine Bestätigung seiner Meinung vom Doktor. Gerade als sie zu essen beginnen wollten, kamen neue Gäste. Es war der Chor einer anderen Kirchgemeinde, in der der Doc früher gelebt und gesungen hatte. Die meisten Sängerinnen- Sänger waren nur zwei dabei- waren um die sechzig Jahre alt. „Au weia“, raunte Gerd Leonard zu, „lauter alte Radieschen, nach dem Essen machen wir´ne Fliege“. Die „alten Radieschen“ stellten sich auf und gaben ein Ständchen, dass die Bläser nicht mehr aus dem Staunen herauskamen. Nach einigen Kirchenliedern sangen sie Volkslieder. Einige Texte hatten sie umgeschrieben und so einige Erlebnissemit dem Doc aufs Korn genommen. Leonard war begeistert. Er staunte, wie gut die „alten“ Damen drauf waren! Natürlich waren die Sängerinnen und Sänger auch eingeladen. Beim Essen kam die Unterhaltung schnell in Gang. „Ach“, meinte Herr Knechter, „ kam er auch bei Ihnen immer zu spät zum Gottesdienst? Immer wenn zwischen Epistel und Evangelium die Türe klappt, dann weiß ich, dass der Doc kommt“. Ehe man sich´s versah, tauschten die Musiker Erlebnisse mit dem Doktor aus. „ Die Bauernhäuser bei uns haben doch immer so kalte Hausflure. Meist sind sie gefliest. Weil die Fliesen so kalt sind, haben früher die Frauen ihre frischgebackenen Kuchen darauf abkühlen lassen. Der Doktor war noch neu hier. Er wollte natürlich einen guten Eindruck in unseren Dörfern machen. Stets trat er sich die Schuhe ab, wenn er in die Häuser kam. Einmal trat er sich die Schuhe ab- im frischgebackenen Mohnkuchen!.“ erzählte eine Sängerin. „Eins muss man dem Doktor lassen“, sagte ein Sänger, „er hat sich Zeit für seine Patienten genommen“. „Sein Motto war, wer krank ist, der hat auch Zeit. Darum war sein Krankenzimmer auch so voll. Mancher hat vier Stunden gewartet“, kam ein Zwischenruf. „Ja, ja, Zeit hatte der Doc. Einmal lag unser Sohn mit vierzig Fieber im Bett. Er sollte eine Spritze bekommen. Als der Doktor die Spritze aufgezogen hatte, begann gerade die Tagesschau. Er sah ins Fernsehen mein Sohn sah auf die Spritze. Der Kleine begann zu zittern, und das nicht vom Fieber. Der Doktor sah immer noch ins Fernsehen, mein Sohn immer noch auf die Spritze. Als die Nachrichten vorüber waren, gab er dann die Spritze. Der Junge war ganz durchgeschwitzt, nachdem der Doc weggegangen war“, warf eine Frau ein. „Wisst ihr noch“, rief eine andere, „der Doktor hat doch immer gerne Brötchen gebacken. Als wir unseren alten Pfarrer in seiner neuen Stelle besuchen wollten hatten wir doch versprochen, das Essen mitzubringen: Salate, Würste, Kuchen usw. Der Doc hatte sich verpflichtet, die Brötchen zu backen. Pünktlich zur Abfahrt kam er. Auf dem Arm hatte er die Schüssel mit Brötchenteig. „Den müssen wir jetzt noch backen“, sagte er. Von wegen noch backen. Ich habe den Doktor auf den Rücksitz verfrachtet mit seiner Schüssel Teig auf dem Schoß. Eine Stunde Autofahrt hatten wir zu überstehen, und der Teig quoll und quoll.“ „Ich bin dem Doktor sehr dankbar“, sagte eine andere, „als unsere Oma im sterben lag, kam er, ohne dass wir etwas gesagt hatten, früh um vier zu uns. Er hat noch einmal geholfen, sie frisch zu machen, und blieb bei uns, bis sie tot war. Es hat mir damals sehr gut getan, wie rührend er sich um uns kümmerte.“ So folgte Geschichte um Geschichte. Leonard und Gerd hatten längst vergessen, dass sie heimgehen wollten. „Neulich, in der Bibelstunde“, „erzählte Herr Knechter, „ hatte er berichtet wie ihn ein Rowdy in der 30km Zone überhole. Auf meine Frage, wie er darauf reagiert habe, antwortete er: ´Ich bin hinterhergefahren, denn ich wollte sehen, was der für ein Nummernschild hatte´.“ „Lasst nur sein“, sagte eine Frau, die bisher geschwiegen hatte, „ohne den Doktor wäre ich heute nicht hier, vielleicht wäre ich sogar schon tot. Ihr wisst doch, dass ich vor einigen Jahren schwere Depressionen hatte. Es war eine schlimme Zeit. Obwohl ich körperlich gesund war, konnte ich nichts tun. Es schien, als ob meine Seele gelähmt wäre. Manchmal hatte ich nicht einmal die Kraft, mich zu waschen. Viele meiner Freunde kamen nicht mehr, mich zu besuchen. Meist ließen sie nur schöne Grüße ausrichten. Na ja, ich war ja auch keine gute Gastgeberin. Der Doktor kam immer wieder mal, obwohl ich nicht sehr freundlich zu ihm war. Eines Tages dann brachte man mich ins Krankenhaus. Dort wurde mir geholfen. Als ich entlassen wurde, holte mich mein Mann ab, und wir fuhren mit dem Bus heim. Auf dem Nachhauseweg kam uns meine beste Freundin entgegen. Kaum dass sie uns gesehen hatte, wechselte sie die Straßenseite und tat, als würde sie uns nicht sehen. Sie konnte zwar nicht wissen, dass es mir besser ging, doch es tat mir sehr weh. Einige Meter weiter sah uns der Doktor. Er rannte über die Straße auf uns zu. Beinahe wäre er noch von einem Auto überfahren worden. Er nahm mich in die Arme und drückte mich ganz fest. Als ich am Abend im Bett lag, musste ich immer wieder an meine Freundin denken. Bitterkeit stieg in mir auf. Ich hatte Angst, dass ich wieder krank werden würde. Immer wieder sagte ich mir: Aber der Doktor hat dich in den Arm genommen, ohne zu wissen, ob du gesund bist. Immer wieder kämpfte ich so gegen die Bitterkeit an. Ich weiß nicht, wie lange ich so mit mir gerungen habe. Mir erschien es, als ob ich es bald nicht mehr schaffe, gegen diese Gefühle anzukämpfen. Plötzlich erklang unter unserem Schlafzimmerfenster eine Flöte. `Befiehl du deine Wege´ spielte der Doktor mir als Ständchen und es wurde ruhig in mir. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn der Doktor nicht dieses Lied gespielt hätte“. Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Weihnachtsbaumbeleuchtung erfüllte ihren Zweck als Partylicht. Mitten in die Gespräche hinein erklang ein Abendlied, gespielt von einer Flöte. Das Gerede verstummte. Auf einmal hatte Leonard ein Gefühl, das er nicht beschreiben konnte. Es war ein Erlebnis von Stille, Geborgenheit, Wärme und einer kleinen Melodie. Plötzlich merkte er, wie ihm die Augen feucht wurden. Als sie nach Hause gingen sagte Leonard zu Gerd: „Ich hätte nicht gedacht, was der Doktor für ein feiner Mensch ist. Ein Glück, dass ich das Ständchen mitgemacht habe“. Im stillen nahm er sich vor, sich nie wieder über das Geflöte vom Doktor aufzuregen. Wenn ich groß bin, sagte er sich dann, werde ich auch ein Original. 9. Herr Knechter und der Krankenbesuch Leonard ging nun schon einige Zeit in die Konfirmandenstunde. Eigentlich hatte er auch Gefallen am Programm, das Pfarrer Frömmle für seine Konfirmanden vorbereitet hatte. Gemeinsam hatten sie sich die Kirche angesehen und alles erkundet, was man dort finden kann. Eine Fahrt nach Buchenwald, die Reise nach Taize in den Herbstferien, der Besuch im Landeskirchenamt und der bei der Kirchenzeitung waren nicht nur interessant, die Konfirmanden erlebten auf diese Art und Weise auch, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben mit Gott gestalten. Auch die Konfirmandenstunden waren sehr interessant, denn Pfarrer Frömmle konnte gut erzählen. Einmal kam Herr Knechter in seiner Eigenschaft als Kirchenältester und berichtete über das Gemeindeleben. Leonard bekam dadurch einen Eindruck, wie so eine Kirchgemeinde funktioniert. Herr Knechter erzählte den Konfirmanden auch, dass es auf den Dörfern immer wieder Mitglieder der Chöre und der Posaunenchöre sind die, das Gemeindeleben in Schwung halten. Der Wermutstropfen bei allem war die Frau des Pfarrers. Frau Frömmle hatte eine sehr bestimmende Art. Meist hängte sie sich in alles hinein, was ihr Mann machte, auch wenn es sie nichts anging. Kurz nachdem Familie Frömmle eingezogen war, hatte man im Dorf gesagt: „Der Pfarrer ist ja in Ordnung, aber seine Frau…“ Wenn Frau Frömmle im Altenkreis eine Initiative einbrachte, sagte Gerds Oma immer hinter vorgehaltener Hand zu ihrer Nachbarin: „ Der Herr Jesus und ich, wir haben beschlossen…“. Einmal gab es im Posaunenchor Ärger. Frau Frömmle hatte die Bläser zu einem Einsatz verdonnert, ohne vorher zu fragen. Herr Knechter versuchte seine Leute mit der Bemerkung „Aber sie hat es doch gut gemeint“ zu beschwichtigen. „Gut meinen und machen sind zweierlei Sachen“, sagte Gerd. Herr Knechter widersprach nicht, wahrscheinlich hatte er auch ein Problem mit Frau Frömmle. Leonard ging Frau Frömmle am liebsten aus dem Weg. Kurz nach dem Reformationstag hatte sie ihn aber doch nach der Konfirmandenstunde abgefangen und sich bei ihm darüber beschwert, dass die Konfirmanden den Gemeinderaum so unordentlich verlassen hätten. Leonard war sauer weil der Raum vom Seniorenkreis her schon schmutzig gewesen war, aber an die traute sich Frau Frömmle nicht heran. Er lief geradewegs zu Gerds Oma, um ihr sein Herz auszuschütten. Schon von weitem sah er, dass irgendetwas nicht stimmte. Der Krankenwagen stand vorm Haus. Gerade als Leonard um den Krankenwagen bog, sah er wie die Sanitäter eine Trage aus dem Haus brachten auf der Gerds Oma lag. Ein Arm hing nach unten, das Gesicht sah aus wie Wachs und der Mund stand offen. Leonard blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Er konnte nicht begreifen, was er da sah. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen. Warum Gerds Oma auch noch? Diese Frage kam ihm langsam in den Sinn und begann in seinem Kopf zu hämmern. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und in seinem Hals fühlte es sich an, als ob er einen Kloß darin hätte. Dann drehte er sich langsam um und begann zu laufen. Er lief durch das Dorf, über die Felder, in den Wald. Dann begann er zu rennen und wurde immer schneller und schneller. Irgendwann bemerkte er, dass es dunkel wurde und dass ihm die Puste ausging. Dann erst drehte er um und ging heim. Die ganze Woche traute er sich nicht zu Gerd, weil er Angst hatte. Am liebsten wäre er nicht zur Chorprobe gegangen. Gerd kam auch später und sah ernster aus als sonst. Normalerweise schwatzten Gerd und Leonard zum Leidwesen von Herrn Knechter miteinander. An diesem Abend traute sich Leonard nicht, das Wort an seinen Freund zu richten. Gerd sagte auch nur: „Oma ist noch nicht über den Berg“. Am Ende der Chorprobe machte Leonard dann den Vorschlag, dass die Bläser am Samstag ein Ständchen im Krankenhaus spielen könnten. Herr Knechter hatte im Krankenhaus nachgefragt und die Genehmigung bekommen, dass der Posaunenchor am Nachmittag im Hof spielen dürfte. Natürlich war Leonard auch dabei. Zuerst spielten sie die Lieblingschoräle von Gerds Oma. Leonard musste sich sehr zusammenreißen, dass er nicht losheulte, denn während des Blasens ging ihm vieles durch den Kopf. Er dachte an den Tod von seiner Oma an die Zeit, als er sich so allein fühlte und daran, wie schön es war, wieder jemand zu haben, der Zeit für ihn hatte. Als die Bläser dann das Lied ´Harre meine Seele` anstimmten konnte sich Leonard nicht mehr beherrschen. Er musste die Trompete absetzen und begann zu schluchzen. Die Tränen rannen ihm über das Gesicht und er konnte sich nicht beruhigen. „Sie darf nicht sterben“ sagte er zu Gerd, der hilflos daneben stand, und begann wieder zu weinen. Die Bläser waren ratlos, bis Eberhard Leonard in den Arm nahm. „Komm wir gehen gemeinsam hoch um sie zu besuchen. Sie will bestimmt nicht so eine Heulsuse sehen“. Dieser Satz klang zwar etwas rauh, aber Leonard beruhigte sich. Oben im Krankenzimmer waren Leonard, Gerd, Eberhard und Herr Knechter. Als Gerds Oma Leonard sah, huschte ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie flüsterte: „Spiel mir was“. Die Bläser sahen sich an, weil sie wussten, dass man das nicht darf. Leonard nahm trotzdem die Trompete, setzte an und spielte. Die anderen beiden konnten nicht widersprechen, weil sie sahen, wie die Augen von Gerds Oma auf die Trompete gerichtet waren und bei seinem Spiel zu leuchten begannen. Auf dem Gang kam gerade die Oberschwester vorbei und glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie öffnete die Tür und holte tief Luft. Eine andere Kranke im Zimmer schaffte es gerade noch, der Oberschwester ein Zeichen zu geben. „Sie hat es sich doch so gewünscht, Schwester“ sagte die Frau. Die Oberschwester drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand. Nachdem Leonard fertig war, verabschiedeten sich die Bläser und gingen. Vor der Zimmertür wurden sie aber schon erwartet. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, fragte die Schwester erbost und zog Leonard am Ohr. Und zu Herrn Knechter gewandt: „Sie alter Esel hätten das aber verbieten müssen, Sie wissen doch dass man so etwas nicht darf!“ Die drei gingen aus dem Krankenhaus wie begossene Pudel, trotzdem hatten sie das Gefühl, dass sie das Richtige getan hatten. Seit diesem besonderen Ständchen ging es mit Gerds Oma wieder bergauf. Kurz vorm ersten Advent kam sie nach Hause. Sie war zwar noch geschwächt, aber doch dann sehr froh, wieder in ihren eigenen vier Wänden zu sein. Leonard besuchte sie jeden Tag, bis seine Mutter sagte er solle die arme Frau doch lieber nicht so oft besuchen und sie in Ruhe lassen. Das erzählte er Gerd. „Untersteh dich“, rief Gerd, „ Oma lauert jeden Tag auf dich, sie hat Angst, dass du nicht kommst. Weißt du was sie gestern von mir wollte? Ich soll für dich grüne Götterspeise kochen. So weit kommt’s noch, dass ich zu kochen anfange.“ Leonard war glücklich. In der Weihnachtszeit war es Tradition, dass Gerds Oma für den Posaunenchor Plätzchen backte. Da sie das nun nicht mehr allein konnte, bat sie Leonard ihr zu helfen. Er willigte auch sofort ein. Mit seiner Oma hatte er auch immer gemeinsam Plätzchen gebacken. Als die Plätzchen im Backofen waren, klagte ihr Leonard sein Leid mit Frau Frömmle. Da erzählte Gerds Oma von ihren Erfahrungen. „Weißt du, Leonard, ich konnte sie auch am Anfang nicht leiden. Als ich im Krankenhaus lag, kam sie jeden zweiten Tag, um mich zu besuchen. Sie hat es nicht spüren lassen, aber ich weiß, dass es für sie nicht einfach war, Zeit zu finden. Anfangs war ich sehr zurückhaltend, doch allmählich taute das Eis, und wir erzählten einander von unserem Leben. Ich hatte mich dazu entschlossen, zur Kirche zu halten, als uns die Kommunisten die Felder weggenommen hatten. Zur Kirche hielt ich mit allen Konsequenzen weil, ich immer hoffte, dass die Kirche es den Kommunisten mal richtig zeigen würde. Die Kirche zeigte es den Kommunisten nie so richtig, aber ich blieb mir treu. Durch die Gespräche mit Frau Frömmle begann ich langsam, über mein Leben nachzudenken. Ich hatte ja Zeit dazu. Manches fiel mir ein was ich falsch gemacht hatte und wofür ich mich schämte. Vieles hätte ich gern anders gemacht. Einige Leute bei, denen ich mich gern entschuldigt hätte, sind schon gestorben. Mit der Zeit habe ich dann gelernt, meine Vergangenheit Gott anzuvertrauen. Heute ist mir wohler wenn ich an damals denke. Auch meine Angst meinen Verwandten zur Last zu fallen, konnte ich loslassen lernen und meine Sorgen zu Gott bringen. Jetzt weiß ich, dass Gott meine Gegenwart kennt und mir hilft. Ich habe dann auch noch gelernt, Gott meine Zukunft anzuvertrauen. Jetzt habe ich keine Angst mehr davor zu sterben.“ „Sie dürfen nicht sterben“, rief Leonard laut. „Oma ist gestorben, und ich war ganz allein. Ich will nicht, dass Gott Sie mir auch noch wegnimmt!“ „Weißt du“, sagte Gerds Oma, „wenn ich nicht mehr bin, hat Gott schon eine Lösung für dich im Ärmel. Außerdem sehen wir uns bald wieder in Gottes neuer Welt.“ „Bis ich so alt werde wie Sie, dauert es doch noch ewig“ „Glaub mir“, sagte Gerds Oma, „ das Leben geht so schnell vorüber, und ehe du dich versiehst, ist es vorbei. Dann feiern wir aber ein richtiges Wiedersehen.“ „Mit Himmelssekt?“ fragte Leonard übermütig. „Na klar,“ erwiderte sie und stupste mit ihrem Arm an Leonards Schulter. „Übrigens, wenn mir jetzt etwas an Frau Frömmle nicht passt, dann sage ich ihr das direkt. Hinter vorgehaltener Hand will ich nicht mehr über sie reden.“ Zu Hause sagte Leonard sich: Ich will zu Gott halten, und am Ende in seine neue Welt kommen, um Gerds Oma wieder zu sehen, und meine Oma auch! 10. Herr Knechter und die Konfirmation Weihnachten kam und ging, dann Ostern, und eine Woche danach war Dorotheas Konfirmation. Herr Knechter und Dorotheas Vater hatten sich abgestimmt und beide Chöre das gleiche Programm üben lassen. So konnte Leonard mitspielen und Dorothea auch bei Leonards Konfirmation. Dorotheas Konfirmation war ein großes Fest. Weil sich viele Verwandte angesagt hatten, gab es viel vorzubereiten. Dorotheas Bruder nahm sich Zeit für Leonard, ihm die Gegend zu zeigen. Es war zwar recht schön, aber es wäre ihm lieber gewesen, die Zeit mit Dorothea zu verbringen. Die wurde aber ständig von ihren Tanten ersten und zweiten Grades belagert, die viele Fragen stellten. „Oi hübsches Kloid hascht da, woher isch des denn? En Freund hascht a schon, un der isch ausm Oschtn?“ Als Leonard das hörte, machte er sich aus dem Staub. Am Tage der Konfirmation saß Leonard im Posaunenchor und spielte mit. Von seinem Platz aus konnte er die Konfirmanden beobachten. Er interessierte sich sonst nicht so für Klamotten, doch jetzt fiel ihm auf, wie schön Dorothea in ihrem Kleid aussah. Sie war die Schönste von allen. Wie eine Prinzessin kam sie ihm vor. Am Nachmittag gab es dann eine richtig tolle Feier. Viele hatten etwas vorbereitet. Ein Lied, ein Gedichte, Sketche und viele andere Dinge wurden zum besten gegeben. Es war richtig toll. Bloß doof war es, dass Dorothea keine Zeit für ihn hatte. Er hätte ihr gern gesagt, wie toll sie aussah. Auf der Heimreise sah Leonards Mutter ihn an. „Das war so eine schöne Feier. Dorotheas Eltern werden enttäuscht sein, wenn sie zu uns kommen.“ Damit sprach sie aus, was Leonard fühlte. Zwei Wochen vor Pfingsten war die Konfirmandenvorstellung. Für diesen Tag hatte Herr Frömmle mit seinen Konfirmanden einiges vorbereitet. Sie mussten viel lernen, denn er war der Meinung, dass es wichtig für alle Christen sei,wenn sie Vaterunser, Gebote mit Erklärung, Psalm 23 und verschiedene Bibelstellen auswendig können. Die Konfi´s übernahmen verschiedene Teile des Gottesdienstes und erzählten an einer besonderen Stelle anhand von Fotos, was sie in ihrer Konfirmandenzeit alles erlebt hatten. Da die Gemeinde die Konfirmandenvorstellung meist nicht so stark besuchte, hatte der Pfarrer diesen Gottesdienst als Familiengottesdienst ausgeschrieben. Leonard und Gerd trafen sich vor der Kirche. Als sie sich noch ein wenig unterhielten, pfiff Gerd durch die Zähne. „Weißt du, wer da kommt?“ fragte Gerd „Meine Nichte Agathe.“ Agathe war Gerds Lieblingsnichte, es war auch die einzige. „Agathe, die Granate“, sagte er immer. Wenn Agathe auftaucht gab es immer etwas zu lachen, auch wenn sie erst vier Jahre alt war. „Mal sehen was heute passiert“, sagte Gerd und ging mit Leonard in die Kirche. Sie saßen nebeneinander in der Bank. Zur Predigt rief der Pfarrer die Kinder nach vorn um sich mit ihnen zu unterhalten. Er las die Worte Jesu vor: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Dann holte er aus seiner Tasche ein Glas mit Zucker, eines Mit Honig und eins mit Nutella. Er ließ die Kinder raten was in den Gläsern war. „Warum hat der Herr Jesus nicht gesagt, ihr seid das Nutella der Erde?“, fragte der Pfarrer. Keins der Kinder wusste eine Antwort. Plötzlich meldete sich Agathe ganz heftig. „Da würden wir doch alle braun aussehen, Herr Pfarrer.“ Gerd rutschte in der Bank nach unten und gab so etwas wie einen Quieklaut von sich. Auch Leonard konnte sich kaum halten. Er hatte es schwer; zur Predigt zurückzufinden, weil er vor seinem inneren Auge lauter braune Christen sah, mit einer Schleife um den Bauch, auf der Nutella stand. Als der Pfarrer fragte: „Wollt ihr wirklich Salz der Erde sein?“ kam Leonard wieder zu sich. Das ist wahrscheinlich die Frage aller Fragen, dachte Leonard bei sich. Die Konfirmation am nächsten Sonntag war wirklich ein schönes Fest. Leonard war gespannt auf seinen Konfirmationsspruch. Gerdas Oma hatte ihm erzählt dass Herr Frömmle die Konfirmationssprüche für jeden einzelnen sehr gründlich aussuchte. Er nahm sich einen ganzen Tag Zeit dafür, fastete und betete, um Gottes Willen zu erkennen. Sie hatte das von Frau Frömmle erfahren. Als Leonard an die Reihe kam musste er mit dem dicken Mark nach vorn. Marks Konfirmationsspruch war: „Das Reich Gottes besteht nicht aus Essen und Trinken, sondern aus Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist“ Au weia, dachte Leonard sich, ob sich da der Herr Pfarrer nicht versehen hatte. Mark war sowieso sauer, weil er von allen wegen seines Gewichtes gehänselt wurde. Nun war Leonard dran. „Jesus spricht Ihr seid das Salz der Erde.“ Leonard rieselte es kalt über den Rücken. Meint Jesus, dass ich das Salz der Erde bin? Ich kleines Würstchen? Ihm stockte fast der Atem. Irgendwie freuteer sich aber auch, dass Gott ihm so eine Aufgabe zutraute. Vor der Kirche standen alle Gäste und beglückwünschten die Konfirmanden. Es ist klar, dass an so einem Tag alle in Feierlaune waren. Sogar Gerd umarmte Leonard. Dabei knurrte er ihm ins Ohr: „Hallo, Nutella“ Leonard knurrte zurück: „Noch ein Wort, und es gibt keinen Nachtisch.“ Gerd gehörte nämlich mit zu den Festgästen. Leonard hatte sich eine Konfirmation gewünscht, wie sie die anderen Konfirmanden auch haben. Mittagessen, Kafeetrinken und Abendessen mit seien Gästen hatte er sich vorgestellt. Da er wusste, dass Mutti nicht so viel Geld hatte, hatte er von seinem Taschengeld und vom Bauhelfergeld gespart, was er konnte. Mit seiner Mutter hatte er lange Verhandlungen über den Ablauf geführt. Man einigte sich über die Gästeliste. Dorothea mit ihren Eltern, Gerd und seine Oma und Herr Knechter waren die Mittagsgäste. Am Nachmittag gab es keinen Kuchen, sondern man fuhr zum Spaziergang nach Weimar in der Park Belvedere. Auch Gerds Oma nahm man im Rollstuhl mit. Danach gab es Eis für alle. Und Kuchen?. Traditionell werden in Thüringen viele Sorten gebacken und in klitzekleine Stückchen geschnitten, die man dann kunstvoll aufbaut. Leonard bestand auch auf Kuchen, den er bei einer Backfrau bestellte. Seine Mutter machte dann den Vorschlag dass, der Kuchen erst später am Abend gereicht würde, wenn der ganze Posaunenchor zum Grillfest in den Garten käme. Am Abend waren dann wirklich alle Bläser gekommen. Leonard war ganz stolz. Sogar der lange Student, der inzwischen kein Student mehr war, konnte es möglich machen zu kommen. Er arbeitete inzwischen in Amerika. Als alle nach dem Essen am Lagerfeuer saßen, holte Herr Knechter die Gitarre hervor. Dass die Bläser gemeinsam singen, hatte Leonard noch nicht erlebt. Sie saßen und sangen Lied für Lied. Dorotheas Eltern und Herr Knechter konnten noch sehr viele Lieder aus ihrer Jugendzeit. Leonard fühlte sich richtig glücklich. Er hatte das Gefühl, als ob sich eine warme Decke um ihn hüllte, die ihn auch innerlich erwärmte. Als er dann im Bett, lag dachte er an die Zeit zurück, als er durch den frostig kalten Ort gelaufen war und den Posaunenchor entdeckt hatte. Er war froh, dass der Posaunenchor sein Leben so reich gemacht hatte. Zum Abschied, am nächsten Tag, sagte Dorotheas Mutter zu Leonards Mutter: „Wissen Sie, das war ein wunderschönes Fest. Wenn wir feiern, dann gehört unsere Verwandtschaft einfach dazu. Manchmal kommt man aber in dem Trubel überhaupt nicht zur Besinnung. Ich habe mich hier so richtig wohl gefühlt. Ich habe mich richtig erholt dabei.“ Leonards Mutter spürte, dass dieses Kompliment ehrlich gemeint war, und wurde ein klein bisschen stolz. Vor der Abreise nahm Dorothea Leonard beiseite und fragte ihn, ob sich mit dem Gebet schon etwas getan hätte. „Weißt du, Herr Knechter kommt uns zwar öfter besuchen und die zwei reden auch viel miteinander, doch ob da mal was draus wird, kann ich nicht sagen.“ „Weiter beten“, sagte Dorothea, „gut Ding will Weile haben.“ Nachdem die Gäste abgereist waren, ging Leonard in den Wald um seinen Gedanken nachzuhängen. Wie war mein Konfirmationsspruch? „Ihr seid das Salz der Erde“. Gott hat bestimmt noch viel mit mir vor. Ich freu mich auf mein Leben.

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